Die Brüder der Gemeinschaft von Taizé sahen es nicht gerne, dass wir mit unseren Schülern die Teilhabe an ihrem Gebetsleben suchten. Ich fühlte mich als Leiter eines Lehrerseminars im Bistum Hildesheim noch recht jugendlich und liebte die engelgleichen Gesänge von Taizé. In vielfacher Wiederholung, manchmal einstimmig oder vielstimmig, singen sie von Engeln und Dämonen, von Licht und Schatten, Zuversicht und Anfechtung und von einer tiefen Sehnsucht nach Erlösung. Ihr Blick richtet sich auf den kommenden Christus. Jugendlich gestimmt bleibt das Leben bis zu seiner Verklärung am Jüngsten Tag.
„Christus, dein Licht verklärt unsere Schatten,
lasse nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht.“
Die Skepsis der Brüder leuchtete mir ein. Eine Reise nach Taizé dient nicht der Bespaßung von Schülern. Mein Freund und Kollege hatte als Französischlehrer die Organisation der Fahrt übernommen. Sie fand im Herbst 2001 statt. Wäre sie heute mit dem sehr hohen Anteil muslimischer Schüler noch durchführbar? Wir alle hatten damals ungläubig und erschüttert auf die Endlosschleife der Bilder von Ground Zero geschaut. Mit diabolischer Logik hatten Islamisten ihre Flugzeuge in die Twin Towers gesteuert. Wir hatten das mysterium iniquitatis (2. Thes 2,7) erlebt. Woher dieser Hass? Vor dem radikal Bösen verstummen alle Versuche der Erklärung.
In Stille und Schweigen erreichten wir Taizé. Ein Bruder im weißen Habit begrüsste uns unterkühlt an diesem neblig feuchten Septembertag und wies uns die Zimmer zu. Taizé ist kein synodaler Weg, sondern geistliche Hierarchie. Ohne sie gibt es keine Vervollkommnung. Wir wurden über den Tagesrhythmus, die Gebets- und Essenszeiten informiert. Im späten Nachmittag trafen wir uns zum ersten Mal mit den anderen Pilgergruppen in der Kirche. Vorne sahen wir eine Mauer aus Ziegelsteinen, dazwischen platziert Teelichter. Stühle gab es nicht. Entweder saßen wir auf dem Boden oder benutzten ein kleines Holzbänkchen. Lang war die Fahrt gewesen und anstrengend. Einige strecken sich daher auf dem Boden aus. Im Kloster herrscht Disziplin. Wo das Heilige sichtbar werden will, da lauern auch die Dämonen. „Wachet und betet!“, heisst es in einem Lied. Es zitiert eine Aufforderung Jesu in der Stunde seiner Todesangst: „Bleibt hier und wachtet mit mit, wachet und betet!“ Die Jünger aber schliefen in der Nacht von Gethsemane vor Erschöpfung und Traurigkeit. Die Gottesdiensthelfer von Taizé bewegen sich lautlos wie Zen-Meister durch die Kirche. Ihr Befehl duldet keinen Widerspruch. Sehr bestimmt fordern sie die Müden auf, sich vom Schlaf des Glaubens zu erheben und die Sitzhaltung der Erwartung einzunehmen. Der Blick richtet sich nach vorne, dort wo die Lichter brennen und bald die ersten Gesänge angestimmt werden.
„Im Dunkel unsrer Nacht,
entzünde das Feuer,
das nie mehr erlischt,
das niemals mehr erlischt.“
Ein Kloster ist kein kulinarischer Ort. Da ich von früher Kindheit an gewohnt bin, schweigend und ohne Kommentar zu essen, was auf den Tisch kommt, habe ich keine Erinnerung an die gemeinsamen Mahlzeiten. Sie genügten. Der nächste Kaufladen liegt weit entfernt und ohnehin hatte der Gastbruder das Verlassen des Geländes ausdrücklich verboten. Er sprach nicht von der stabilitas loci, ohne die es keine wirkliche Konzentration des Geistes auf das Wesentliche geben kann, sondern von den Dorfbewohnern, die nicht durch einen Massenandrang von Apostaten der Stille belästigt werden sollten. Die Schüler hielten sich an diese Vorgabe. Ohnehin waren die Rucksäcke mit einem Notvorrat an Essbaren prall gefüllt. Meinem Kollegen und mir blieb zwischen den Gebetszeiten viel Zeit für unser theologisches Gespräch über Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr, denn die Schüler wurden in Gesprächsgruppen betreut.
Taizé liegt in einsamer Landschaft. Doch mit dem Bus kann man in 18 Minuten Cluny erreichen. Von hier aus erneuerte die cluniazensische Reform den lasch gewordenen Glauben in ganz Europa und zeigte sich wehrbereit gegenüber den muslimischen Kriegern. Die Abtei von Cluny wurde durch französische Gottesleugner im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit 1798 enteignet und dem Abbruch freigegeben. Der Dämon der Zerstörung hat viel Gesichter. Als wir nach dem Besuch heimkehrten, erwartete uns schon der Gastbruder mit einer Ermahnung. Unsere Büßerstimmung hielt uns nicht davon ab, nach dem Abendessen ein Glas Rotwein aus kleinem Glas (0,1 L) zu bestellen. Hinter der Eßhalle wurde jeden Abend bis 21.00 Uhr eine Verkaufsbude eröffnet. Gośka und Swetlana schenken uns sogar noch ein zweites Glas ein. Was wäre die Ökumene ohne den Osten! Vollkommen versöhnt waren wir, als Gośka uns in deutscher Sprache zusprach: „Zum Wohle, zum Wohle, der Papst ist ein Pole!“
Am Freitagabend sahen wir die Kirche in anderem Licht. Wir hatten inzwischen die angemessene Sitzhaltung gelernt. Die Helfer der Brüder hatten ein großes Kreuz aus Teelichtern auf dem Boden gelegt. Nach einer Zeit des Gesanges bewegten sich einige Teilnehmer auf das Kreuz zu und verneigten sich. Das war ein Bußakt. Dann kam eine neue Bewegung in den Raum. Wir saßen wie immer ganz hinten, damit wir aus leicht erhöhtem Platz den Raum überblicken konnten. In der Tiefe des Raumes hockte ein Mensch in weißem Habit auf dem Boden. Jugendliche aus den vorderen Reihen erhoben sich von ihren Hockern und robbten auf Knien zu dem Alten. So entstand eine lange Warteschlange. Ich schaute auf unsere Schüler. Einige waren richtige Rabauken. Zu ihnen gehörte Marcel, der auch in Taizé seine langen Haare mit Gel zugekleistert und zu einem Hahnenkamm geformt hatte. In Calderons berühmten geistlichen Spiel „Das große Welttheater“ erklingt am Ende das Tantum ergo. Vor dem Allerheiligsten beugen alle die Knie, selbst die Mächte der Unterwelt:
„Da des Himmels Engelscharen,
In der Hölle die Dämonen
Und die Menschen auf der Welt
All sich beugen vor dem Brote“.
In der Ökumene von Taizé wird keine eucharistische Anbetung praktiziert. Aber selbst Marcel ging auf die Knie und kroch über den Boden zu dem alten Mann. Ich war inzwischen aufgestanden und hatte mich leise am Rand der Kirche in Richtung jener Säule geschlichen, an die sich der Alte gelehnt hatte. Ja, es war Frère Roger, von dem sich die jungen Menschen segnen ließen. Er legte ihnen seine Hände auf den Kopf. Nun war mein Schüler an der Reihe. Der Gründer der Gemeinschaft wird doch nicht seine zarten Hände in diesen Irokesen-Haarschnitt betten! So durchfuhr es mich. Doch der heilige Mann kannte keine Berührungsängste und segnete den Jungen.
Das Bild von diesem Segen begleitete mich. Niemand kennt die geheime Wirkung eines Segens. Wenn ich mit meinem Freund und Seelsorger Pater Franz OFM durch jene bayerischen Landschaften fuhr, in denen er Mission betrieben hatte, so segnete er vom Steuer des alten Wagens aus die kleinen Städte und Ortschaften, an denen wir vorbeifuhren. Segen wirkt auch dann, wenn der Gesegnete nichts von der Segnung weiß. Wir leben in einer Zeitenwende. Die mit dem Zeichnen Tau Gesegneten werden den Untergang überleben. Wohl deshalb tragen die Brüder das endzeitliche franziskanische Symbol.
Es gibt viele Möglichkeiten, Impulse aus Taizé in den Schulalltag zu integrieren, besonders, wo es noch die Tradition der Andachten gibt. Taizé-Lieder haben längst Eingang in das Gotteslob gefunden. Bei aller Freude am Gesang machen sie der Gemeinde auch bewusst, dass die Messe in der niedersächsischen Diaspora keine Taizé-Stimmung erzeugen kann. Dafür tadelt niemand im Norden den fröhlichen Schluck Bier oder das Glas Wein im Gemeindehaus nach dem Besuch der Messe.
Segen wirkt meistens dort, wo wir ihn nicht erwarten. Das Abitur kam und mit ihm der Gottesdienst, für dessen Gestaltung ich zuständig war. Die Schulkirche ist dem Erzengel Michael geweiht. Bernward von Hildesheim hat sie in der ersten Jahrtausendwende errichtet. Damals kamen die kleinen Bronzeengel in Gebrauch, Handschmeichler für alle Fälle und Lebensbegleiter weit über den Tag der Verleihung der Reifezeugnisse hinaus. Ich hatte das Bedürfnis, meinen Schülern diesen Engel mit auf den Weg zu geben. Der Pfarrer sollte die Abiturientia in kleinen Gruppen im Altarraum segnen und jedem einzelnen einen Engel mit auf den Weg geben. Mit der Einführung von Ritualen zumal unter Lutheranern kann man schweren Schiffbruch erleiden. Wir waren uns des Risikos der Ablehnung bewusst. Ein Abi-Gottesdienst ist weder Kirchen- noch Katholikentag, wo andere Formen der Liturgie gerne erprobt werden. Die Geschichten, die unsere Schüler Jahre später von der Fahrt nach Taizé und der Segnung in der Michaeliskirche erzählten, bezeugen die Wirkung segnenden Handelns. Man muss es einfach tun und darf wie Frère Roger keine Angst vor vielleicht unangenehmen Berührungen und Folgen haben.
„Auf dich vertraue ich und fürchte mich nicht“: Beim Abendgebet in der Versöhnungskirche bewegte sich vier Jahre nach unserer Reise eine junge Frau aus Rumänien auf den Greis zu und erstach ihn. Frère Roger war sofort tot. Die 2500 Anwesenden hielten kurz inne. Dann sangen sie weiter. Über aller Zerstörung gibt es eine unzerstörbare Ökumene der glaubenden Herzen. Der Gesang der Engel verstummt niemals. Auch das hatte ich auf dieser Reise erfahren.