In Nordrhein-Westfalen herrschte Einstellungsstop für Lehrer. Gelegentlich gab es in Niedersachsen einen befristeten Vertrag, der mit Beginn der Sommerferien in der Arbeitslosigkeit endete. So zog ich ab 1985 mit drei kleinen Kindern von Schule zu Schule immer weiter gen Osten bis ich nahe der Grenze zur DDR eine erste feste Stelle fand. Ferien gab es in all den Jahren nicht. Dann begann eine neue Zeit. In einem alten Mercedes 200 war auf der Rückbank genügend Platz für drei kleine Kinder und oben auf dem Dachgepäckträger Raum für Koffer. Wir fuhren nach Travemünde und von dort mit der Fähre nach Bornholm. Am Strand von Dueodde hatten wir ein Ferienhaus gemietet. Bornholm schien verlockend: Hier hatte während der Jahre des Exils Hans Henny Jahnn (1894-1959) seinen Roman „Fluss ohne Ufer“ geschrieben und Pferde gezüchtet. Ich wollte den Ort seines Wirkens besuchen, während die Kinder in jenem feinen Sand spielten, der einst durch die Sanduhren rieselte. Ein Symbol der Stille, aber auch der verrinnenden Zeit, die den Teufel wütend macht (Apk 12, 12).

Statt Entspannung pur verbrachten wir die Tage bei einem dänischen Arzt. Der jüngste Sohn, kaum ein Jahr alt, hatte beim Krabbeln Zigarettenkippen gefunden, die Raucher im schönsten Sand der Welt ausgedrückt hatten. Er kaute auf ihnen herum. Im Garten des Ferienhauses wuchs in schönen großen Blättern der Riesenbärenklau. Die kleine Tochter spielte in strahlender Sonne mit den Blättern. Am Abend hatte sie kastaniengroße Brandblasen an den Armen. Sie waren eine phototoxische Reaktion auf die hochgiftige Pflanze. Das große Nest unter dem Dach, aus dem die Wespen ins Kinderzimmer flogen, war schon kaum der Rede wert. Am Ende der zehn Tage war alles gut. 

Im kommenden Sommer wollte ich auf Nummer sicher gehen: Pauschalurlaub in einem weißen Haus an der Algave unter blauem Himmel. Was sollte da schon passieren? Gelassenheit ist der Schlüssel zum glücklichen Urlaub mit kleinen Kindern. Die nächtliche Musik aus der Discothek kann man ignorieren, der verstopfte Abfluss im Bad kann freigespült werden, die Ameisenstraße im Schlafzimmer sieht doch ganz lustig aus und gegen die Mittelohrentzündung hatte der Hausarzt Medikamente in die Reiseapotheke gepackt. Der Sandstrand zwischen den Felsen lud zum Buddeln, das warme Wasser zum Baden ein. Alles war nach einer Woche auch den Kindern schrecklich langweilig. Ich weiß nicht, warum ich in diesen Tagen an Fatima dachte. Es war wie ein Ruf aus einer anderen Welt. Leises Rieseln des Sandes. Nur einmal hatte ich im Jahr 1973 einen Wallfahrtsort im polnischen Heiligelinde/ Święta Lipka besucht.

Der erkrankte Sohn blieb bei der Mutter, ich mietete einen Wagen und machte mich mit zwei Kindern ohne Handy, ohne Navi und ohne Karten auf den Weg in den Norden. Am Hafen von Lissabon kamen Afrikaner auf uns zu und wollten uns Drogen verkaufen. In einen Museumsladen stöberte ich in den CDs. Ob sie mir helfen könne, fragte die Verkäuferin. Ich suche typisch portugiesische Musik. Fado? Die Verkäuferin reichte mir zwei CDs der Gruppe „Madredeus“ (Muttergottes): „Os dias da Madredeus“ (1987) sei in dem gleichnamigen Kloster im Lissaboner Stadtteil Xabregas aufgenommen worden. Soeben sei „Existir“ (1990) erschienen. Dann sagte sie noch: „Diese Musik ist die Seele Portugals!“ Sie wurde es für mich. Eine Fügung war auch der Besuch des Monsteiro dos Jerónimos. Hier standen wir ganz unverhofft vor dem Grab Vasco da Gamas. Die Geschichte seiner Entdeckung des Seeweges nach Indien interessierte die Kinder ebenso wie das Panzernashorn neben der Lieben Frau der sicheren Heimkehr am Torre de Belém. Kunst, Kultur und Katholizismus: Vielleicht war das der Ruf? 

Geschichte in Geschichten. Wir fuhren weiter und erreichten Fatima. Die Stadt war voller Zelte. Überall campierten Menschen. Drei Betten in einer Pension oder in einem Hotel werden wir nicht finden, hieß es. Die Stadt sei übervoll mit Pilgern. Ob wir nicht wüßten, dass heute der Tag der Erscheinung der Muttergottes sei? Wir hatten keine Ahnung. Schließlich ging ich mit den Kindern in ein Hotel und erklärte unsere Lage. Natürlich war das Haus ausgebucht, aber der Mann hinter dem Tresen wusste Rat. Er stieg zu uns ins Auto und brachte uns zu einem Haus, wo wir ein schönes Zimmer, aber nichts zu essen fanden. Die Nacht kam und ein neuer Morgen. Ich wusste nicht, was uns erwartete. Einem Büchlein entnahm ich die Geschichte der drei Seherkinder Jacinta, Francisco und Lúcia. Zuerst waren ihnen Engel erschienen, dann im Jahr 1917 die Muttergottes in einer Steineiche. Das war an einem 13. Mai. Weitere Erscheinungen der Madredeus folgten. Aber der 13. Tag eines Monats galt hinfort als heiliger Tag. Wir waren am 13. Juli angekommen. Deshalb waren die Straßen überfüllt und die Herbergen ausgebucht. Doch durch ein kleines Wunder hatte uns die Muttergottes begrüßt. Wir kamen als Uneingeweihte. Ich konnte den Kindern keine Vorträge halten, wusste nicht mehr als sie. So entdeckten wir das Geheimnis gemeinsam. Was vor Augen lag, hatten wir Menschen aus dem säkularen Norden Deutschlands nie zuvor gesehen. Ein Meer von Kerzen. Dazwischen Arme, Beine, Finger oder ein Herz aus Wachs. Dankopfer für gelungene Heilung. Wer ging nördlich des Mains schon auf die Knie - außer beim Jäten von Unkraut im Garten? Hier auf der Cova da Irina rutschten Menschen auf ihren Knien zum Heiligtum der Muttergottes. Die Kinder stellten keine Fragen. Sie schauten mit offenen Augen auf den Bitt- und Bußgang. Religiöse Erlebnisse berühren das Unsagbare. So ging es auch uns mit dem Besuch in Fatima. Wir wurden damals nicht zu Betern des Fatima-Rosenkranzes. Der Teufel hat keine Zeit, heisst es. Das Wunder  hat alle Zeit dieser Welt, um im Leben anzukommen. 

Fatima hatte uns auf die Spur gesetzt. In den kommenden Sommern besuchten wir Kunst, Kirchen und Kathedralen und fuhren nach Irland. Hier wird in Knock (Grafschaft Mayo) ebenfalls die Muttergottes verehrt. Sie erschien am 21. August 1879. Wir kauften Plastikflaschen mit kitschigen Bildern und füllten sie mit geweihtem Wasser. Heiliges Wasser nannten es die Kinder, nachdem sie von seiner Bedeutung und möglichen Wirkung gehört hatten. Die kleine Flasche ruhte über einige Zeit im Regal zwischen meinen Büchern. Niemand unterrichtete die Kinder im rechten Gebrauch des Weihwassers. Eines Tages kam meine Tochter mit ihren Freundinnen. Eines ihrer Kaninchen, ein gescheckter Schlappohrwidder war erkrankt. Kaninchen werden nicht alt, und plötzlich können sie ohne erkennbaren Grund sterben. Das hatten wir leidvoll erfahren. Nun fragten die Mädchen nach dem heiligen Wasser. Sie besprengten damit das Tier. Ob es auch ohne Weihwasser aus Knock wieder gesundet wäre, weiß niemand und niemanden interessierte die Frage. Bald kamen weitere Kinder des Dorfes, in dem wir damals wohnten, und brachten ihre kleinen Haustiere zur Besprengung.  

Inzwischen weiß ich, dass es viele Wunder am Wegesrand gibt. Sie eignen sich nicht für große Bekenntnisse. Wer über sie viele Worte macht, der zerstört ihren Zauber und vielleicht auch die Macht ihrer heimlichen Wirksamkeit. Ein Ruf erklingt. Wer der Stimme folgt, kann ein kleines Wunder erleben. Vielleicht zeigt es im weiteren Leben seine Wirksamkeit. Über die Erscheinungen von Fatima und ihre apokalyptische Botschaft ist viel geschrieben worden. Später habe ich die Aufzeichnungen gelesen. 

Bewegt hat mich der große Papst aus Polen. Am Fatima-Tag des 13. Mai 1981 wurde er von drei Kugeln eines Moslems getroffen. Der Attentäter hatte sich als Priester getarnt. Johannes Paul II. führte seine Rettung auf ein Wunder der Muttergottes von Fatima zurück: Im Plan der Vorsehung gebe es keine reinen Zufälle. Bei seinem Besuch ihres Heiligtums im folgenden Jahr wurde er abermals Opfer eines Attentatversuches. Eine Kugel ließ er zum Dank in die Krone der Madredeus einarbeiten. Zum Ende des Heiligen Jahres 2020 kam die Statue der Muttergottes in den Vatikan. Der Attentäter veröffentlichte 2013 seine Memoiren. Auch hier zeigte er sich als zwielichtige und unglaubwürdige Figur. So behauptete er, der höchste religiöse Führer aus dem Iran habe ihm den Auftrag erteilt. Der Papst hatte Mehmet Ali Agca (*1958) im Gefängnis besucht und ihm vergeben.  Dort soll der Inhaftierte dem Heiligen Vater gestanden habe, er fürchte sich vor der Rache der Muttergottes. Johannes Paul II. wollte diese Furcht zerstreuen: Auch ein Moslem könnte zu Maria beten. Niemand weiß, wie dieses Beichtgeheimnis aus dem Gefängnismauern gedrungen sein soll. Und niemand weiß, ob Geduld und Güte der Muttergottes eine Grenze haben. Ein Laissez-Faire der Gnade hat sie jedenfalls nicht geduldet.

Unsere Reise aus der Langeweile des Strandurlaubes hatte uns mit einer Geschichte konfrontiert, die noch nicht zu Ende erzählt ist. Diese Offenheit für Zukünftiges gehört wohl zur Substanz des Glaubens. Aus ihr kommen immer wieder und unerwartet neue Wunder auch in der Biografie der Kinder.