Kursfahrten gehören zum Bildungsprogramm der Gymnasien. Ich diente an einer Traditionsschule in Hildesheim. Drei Pflichtfremdsprachen, Latein, Griechisch, Englisch, und nach Belieben Hebräisch oder Italienisch boten eine angemessene Herausforderung, um die Lernwilligen und -fähigen bereits in der fünften Klasse angemessen zu fördern und zu fordern. Doch kündigte sich auch in dieser pädagogischen Provinz die neue Zeit an. Noch verfehlte der Versuch eines Elternpaares, beide Abgeordnete der Grünen im Stadtparlament, das unsachgemäße Verhalten ihres Rabauken mit dem Hinweis auf seine Hochbegabung zu rechtfertigen, die erhoffte Wirkung. Der Direktor entgegnete: „Wissen Sie, gnädige Frau, bei uns sind alle hochbegabt.“ Dieser Ton wäre heute ein Grund für die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand.

Die Oberstufe fuhr nach Rom oder nach Athen. Eine Kursfahrt nach Island fiel dagegen völlig aus dem Rahmen. Wohl gerade deshalb bot sie mein Kollege an. Er gehörte zu jenen wahrhaft Hochbegabten, die von der Studienstiftung des deutschen Volkes nicht nur wegen ihrer herausragenden schulischen Leistungen, sondern auch wegen ihrer Eigenwilligkeit gefördert worden waren. Als Reisender in hohen Breitengraden mit Erfahrungen in den Biotopen der russischen Arktis durfte ich seine Gruppe begleiten. 

Die Insel der Trolle und Trottellummen bietet Survialquälität: Statt gehobenem Hotel und dolce vita in römischen Bars und Cafes - Übernachtung auf nacktem Boden. Statt Drei-Gänge-Menü in Athen - Selbstverpflegung aus der Dose oder Fasten. Dafür Natur pur: Vulkane und Geysire, Papageientaucher und Raubmöven. Island ist teuer. Das Jahr der Vorbereitung bot jedoch ausreichend Zeit, durch Nebenjobs die Reisekasse aufzubessern. 

Der Norden hatte mich schon immer fasziniert. Ich las die Edda und die Romane von Halldór Kiljan Laxness (1902-1998). Der spätere Nobelpreisträger (1955) empfing am 6. Januar 1923 im Kloster Saint-Maurice in Clervaux die katholische Taufe und Firmung. Pater Beda von Hessen OSB war sein Beichtvater. Das Benediktinerkloster hatte gemäß der Anordnung Pius X. die Aufgabe, für die Rückkehr der Skandinavier zu beten. Laxness’ berühmter Roman „Islandsglocke“ (1943-1946) ist auch eine Kirchengeschichte Islands, das sich im Jahr 1000 freiwillig zum Katholizismus bekehrt hatte. Vor der Landnahme durch norwegische Siedler hatten auf Island bereits irische Einsiedler gelebt. Sie gehören zur ungeschriebenen christlichen Vorgeschichte der Insel.

Auf Thingvellir, dem heiligen Versammlungsplatz der Nordmänner und -frauen, hatte der Rechtsgelehrte Thorgeir Thorkelsson einen Tag und eine Nacht unter einer Pelzdecke meditiert und dann einen weisen Entschluss gefasst: Um die Einheit zu wahren, sollten alle Isländer katholisch werden! Gesagt, getan. Thing ist Thing. In Skálholt entstand 1057 der erste Bischofssitz. Benediktiner gründeten Männer- und Frauenklöster. Ihnen folgten Augustiner. Mit der Reformation wurde das Luthertum Staatsreligion in Skandinavien. Der dänische König Christian III. ließ den widerständigen isländischen Bischof Jón Arason in Skáholt hinrichten. Der Roman „Islandglocke“ erzählt von einem Traditionsverlust und dem großen Vergessen, das inzwischen auch die gesamte deutsche Schullandschaft ergriffen hat. Der Held Arnas Arnaeus macht sich auf die Suche nach alten Handschriften. Die beschriebenen Pergamente wurden aus den Büchern gerissen und zur Isolierung der Häuser missbraucht. Arnas Arnaeus sah in der Sammlung und Sicherung der beinahe vergessenen Tradition seine Berufung. Ich teilte sie unmittelbar und fand es allemal pädagogisch wertvoll, diese Leidenschaft für die großen Bücher der Vergangenheit an die Jugend weiterzugeben. Wer weiß, vielleicht waren wir die letzten Lernenden, die noch einmal den Kreis christlicher und humanistischer Bildung durchschritten, bevor die Bildungsreformer große Teile dieses Biotopes in Brachland verwandelten. Wenige Jahre vor unserer Reise hatte Johannes Paul II. die katholischen Bistümer des Nordens besucht. Auf Thingvellir hielt er am 3. Juni 1989 eine Ansprache, predigte in der Bischofskirche von Reykavik und empfing Halldor Laxness in einer Privataudienz.

Unser Flug ging von Düsseldorf nach Keflavik. Der Flughafen im Osten der Insel liegt in der Nähe von Thingvellir und der Blauen Lagune (Bláa Lónið), dem Thermalfreibad bei Grindavík. Der Salzwassersee mit der blau-weißen Farbe gehört zu einem Geothermalkraftwerk. Aus 2000 Meter Tiefe pumpt es heißes Wasser an die Oberfläche. Im Thermalbad hat das Heilwasser dann Badenwannentemperatur. Seine Zusammensetzung aus Kieselsäure, Natrium, Kalium und vielen weiteren Bestandteilen hat mich weniger interessiert, wohl aber die Frage, wie ich in Badehose neben den Schülern aussehen würde. Auch die 200 Algenarten im Seewasser waren mir unwichtig. Die Isländer leben nicht nur auf einem Vulkan, sondern einen weit verzweigten seismischen Feld. So ist der Badeaufenthalt in der Blauen Lagune auch eine Einübung in jene Gelassenheit, mit der die Nordländer die Meere befuhren und unbekannte Länder erforschen. Ein Denkmal des größten Seefahrers Leif Eriksson steht deshalb vor der Hallgrimskirche in Reykavik. Sein Mut hatte mich in früher Jugend berührt, und ich las Bücher über die Fahrten der Wikinger. 

Die Nordlandreise ist eine Einübung in Resilienz oder besser den Umgang mit dem Unerwarteten. Alle Schönheit der Natur und alle Harmonie menschlicher Verhältnisse  kann sich plötzlich ins Gegenteil verkehren. Standhaftigkeit und Treue, Glaubensfestigkeit und Frustrationstoleranz entwickeln sich erst in den Stürmen des Lebens. Die Erde wird nie zur Ruhe kommen. Doch steht unerschütterlich die Botschaft vom Frieden auf Erden. Diesen Widerspruch gilt es aushalten zu lernen, und allein deshalb ist die Reise nach Island eine grundlegende Erfahrung. 

Im August 2003 blieb die Blaue Lagune ruhig. 20 Jahre später wurde sie nach mehreren Erdbeben geschlossen. Im Jahr 2024 erfolgten Schließungen und Eröffnungen im regen Wechsel. Die Blaue Lagune ist nicht nur ein Ort der Heilung für verschiedene Hautkrankheiten, sondern ein Therapieort für Menschen mit der Neigung zu Panikattacken. Wo, wenn nicht hier, kann man lernen, mit dem Unverfügbaren umzugehen?

Vatnajökull heißt der größte Gletscher auf Island. 1000 Meter dickes Eis, 100 Kilometer in der Ausdehnung von Nord nach Süd, 150 km von West nach Ost. Wir haben unser Zeltlager in Skaftafell aufgebaut. Gebadet wird in den warmen Flüssen und Seen. Ein eiskalter Hauch entströmt der großen Öffnung der Gletscherzunge. Der Bachlauf ist voll dicker Kieselsteine. Einige sind wie von einem Messer sauber durchgetrennt. Das Eis hat sie zu voller Schönheit gebrochen. Unter dem Gletscher liegen einige der aktivsten Vulkane der Insel. Die Welt des Nordens entsteht aus Feuer und Eis. Die alten Mythen der Edda können noch heute von den Isländern gelesen werden. In allem Wandel der Zeit hat sich die Sprache bewahrt. Identität braucht auch eine Abgrenzung gegenüber dem Fremden. Ein Islandpferd, das etwa zur Zucht die Insel verlassen hat, darf nie wieder heimkehren. Auch für seine Nachkommen bleibt der Weg versperrt.

Isländer haben einen sehr langen Atem und ein noch längeres Traditionsbewusstsein. Der Bauer, der uns über den Vogelfelsen vom Kap Ingólfshöfði führen wird, leitet seine Familiengeschichte in gerader Linie auf Ingólfur Arnarson zurück, der vor über 1000 Jahren auf das damals noch bewaldete Island kam. Ebenso lange wohnt seine Familie auf dem Hof Hofsnes. Mit ihm hatten wir ein unerwartetes Initiationserlebnis. Einar Rúnar Sigurðsson sollte uns zum Vogelfelsen führen, aber seine Frau Matthildur Unnur Thorsteinsdóttir hatte in den frühen Morgenstunden einen Sohn zur Welt gebracht. So übernahm sein Vater, Sigurður Bjarnason, diese Aufgabe. Er hatte vor Jahren die Schafzucht aufgegeben und sich auf Touristenführungen spezialisiert. 

Mit dem Linienbus fahren wir zu den feuchten Marschwiesen, wo der Altbauer bereits auf uns wartet. Wir besteigen den offenen Anhänger und fahren zum Plateau der grasbewachsenen Steilküste. Bauer Bjarnason plaudert ohne Punkt und Komma - auf Isländisch. Unsere fleißigen Schüler beherrschen einige europäische Kontaktsprachen, deren Erwerb sich hier auf dem Felsen der Vögel als wenig brauchbar erweist. Unser Nordmann plaudert weiter. Er zeigt auf einen jungen Vogel auf dem Boden. Ist er verletzt? Ist er tot? Er zeigt auf wilde Raubmöven (Skuas) über den Klippen. Sie haben spitze Schnäbel. So stellt sich der Zusammenhang wie von selbst her. Der Jungvogel ist von Skuas getötet worden! Besonders die Schülerinnen reagieren mit Betroffenheit. Gerade wollen sie den Blick wenden, da flattert der Vogel mit den Flügeln und erhebt sich munter in die Lüfte. Die Führung erweist sich als Grenzfall der Kommunikation. Sie gilt es auszuhalten. Ataraxia nannten die alten Griechen die Tugend der Seelenruhe. In den kommenden Stürmen des Lebens ist sie wichtiger denn je. Diese Lehre war die Reise wert.