„sueños hay, que verdad son -
Träume gibt’s, die Wahrheit sind“
Don Petro Calderon de la Barca
Pater Franz OFM war mein Berater in allen Fragen über Engel. Ich lernte den Seelsorger bei einem Besuch des Klosters Engelberg oberhalb des Mains kennen. Damals arbeitete ich an einem Buch über Anneliese Michel. Gemeinsam besuchten wir im Laufe der kommenden Jahre verschiedene Franziskanerklöster. Als wir uns in einem Prager Wirtshaus ein Bier gönnten, suchte ein Ehepaar die Nähe des Paters. Ihre Tochter hatte ein Prädikatsexamen abgelegt und sollte nun die sehr erfolgreiche Kanzlei ihres Vaters im Lehel übernehmen. Aber der rechte Mann fürs Leben war noch nicht gefunden. Die Mutter klagte ihr Leid. „Gnädige Frau,“ sagte Pater Franz, „haben sie schon einmal versucht, zum zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter zu beten?“ Die Frau blickte skeptisch auf den Mann Gottes. „Ja, wie sollen sich die für einander bestimmten Menschen unter den vielen Millionen finden, wenn die Schutzengel nicht Hilfe leisten!“ Das leuchtete ein. Man tauschte die Adressen. Nach einem Jahr kam die Nachricht einer glücklichen Ehestiftung.
Jahre später wohnte Pater Franz im Kloster St. Anna. So begann unsere nächste Reise in München. Pater Rodrigo, der in Portiunkula Pilger betreut, hatte uns eingeladen, im Konvent der Brüder in Santa Maria degli Angeli zu wohnen. Es war abgemacht, dass wir als Pilger nach Assisi fahren sollten. Franz fragte mich nach einem Gebetsanliegen. Das hatte ich. Der Vater war schwer erkrankt. Am Morgen nach unserer Ankunft führte uns Pater Rodrigo durch die Basilika. Er plauderte in sechs Sprachen mit Pilgern aus Südamerika, Frankreich, Australien, Japan, Holland, Deutschland, hatte für jeden Besucher einen fröhlichen Gruß parat und segnete junge Mütter mit ihren Kindern.
Im Klostergarten finde ich dicke Pinienzapfen und nehme einen in die Heimat mit. Vielleicht wird aus den Samen ein Baum in meinem Garten wachsen. Nach dem Aufheben des Pinienzapfens fällt mein Blick auf den Bergesrücken. Auf ihm liegt Assisi. Der Heilige hat viele Orte in Umbrien bereist, doch das Zentrum seiner Bewegung errichtete er direkt unterhalb seiner Vaterstadt, so dass es sein Vater jederzeit vor Augen hatten. Was mochte Pietro die Bernardone gedacht haben, als er auf das Werk seines Sohnes blickte? Hatte er die Renovierungsarbeiten an der Kirche als Provokation verstanden? War er noch wütend auf sein Kind, das sich vor aller Öffentlichkeit von ihm losgesagt hatte? Franz hatte den inneren Reichtum in seiner Seele entdeckt und sich ohne Rücksicht auf die Gefühle des Vaters durchgesetzt. Wer hat je die schlaflosen Nächte Pietro die Bernardones beschrieben? Wer kennt die Verzweiflung, die Selbstvorwürfe, die Trauer, Wut, Empörung und den Zorn in seiner Seele? Wer spricht von den Konflikten zwischen den Eltern und Geschwistern daheim, als der Älteste als verlorener Sohn in dieser provokanten Weise das Vaterhaus für immer verlassen hatte?
Über seiner Grabstätte wölbt sich die zweischiffige Basilika von San Francesco. Den oberen Teil mit dem Zyklus von Szenen aus dem Leben des Heiligen können wir nicht betreten, weil die Erdbebenschäden vom 26. September 1997 noch nicht behoben sind. Große Teile der Fresken sind von der Decke gestürzt. Pater Gerhard Ruf empfängt uns. Wir sitzen in seiner winzigen Zelle. Mein Blick schweift über die Bücherregale zur Decke. Tiefe Risse sind im Mauerwerk zu sehen. Einem Pilger ist in der Kirche die Tasche abhanden gekommen. Pater Ruf hat seine Personalien aufgenommen. Der Busfahrer mahnt zur Eile. Jetzt hat der Pilger seinen deutschen Personalausweis vergessen. Pater Ruf sendet ein e-mail an den Reiseveranstalter, anschließend drei Faxe an potentielle Spender für den Wiederaufbau der Basilika, telefoniert mit einem Professor für Kunstgeschichte, erläutert zwischendurch ein Promotionsvorhaben eines jungen Kunsthistorikers über einen Glasfensterzyklus der Kirche und ist dabei heiter. „Können Sie mir sagen, was Geduld ist?“, fragt er unvermittelt. Mit unseren Antworten ist er nicht zufrieden. Er führt uns zu einer großen Halle hinter der Kirche. Hier liegen in zahllosen Kisten und Schubladen Millionen winziger Bruchstücke aus den Giotto-Fresken. Wissenschaftler versuchen die Bilder aus dem Leben des heiligen Franz wieder zusammenzusetzen.
Wie schafft man es, aus 50000 blauen Steinchen einen Himmel zu rekonstruieren? Ein Stein mit dem Bild eines Auges, eines Engelflügels, einer Haarlocke – damit läßt sich arbeiten. Wie stellt man jedoch den Faltenwurf eines Gewandes aus rostbrauner Farbe wieder her? Wahrscheinlich nur aus dem Geist jener Heiterkeit, die Pater Ruf verbreitet. Auf dem Rückweg zur Basilika berichtet er von der Nacht des Erdbebens und ihren Opfern. Erinnerungen an die Kriegszeit sind plötzlich da. „Was macht ihr, wenn die Gefahr kommt?“, fragt er. „Sofort weglaufen“, antworte ich. „Falsch, du mußt stehen bleiben. Löst sich denn die Muschel von der Buhne, wenn die große Welle kommt?!“
Wir fahren die kurvenreiche Strecke auf den La Verna, ein Berg, den Graf Orlando Catani am 8. Mai 1213 dem Heiligen schenkte, damit er hier in Ruhe beten konnte. Als sich dieser im Sommer des Jahres 1224 von Maria Himmelfahrt bis zum Fest des Erzengels Michael dort hin zurückzog, um zu Ehren des Erzengels Michael zu fasten, erschien ihm am frühen Morgen des 14. Septembers ein sechsflügeliger Seraph aus dessen Mitte der gekreuzigte Christus hervortrat. Franz war Christus nachgefolgt. Auf dem La Verna vollendete sich seine geistliche Annäherung.
Der La Verna liegt im nasskalten Nebel. Wir frieren. Es ist fünfzehn Uhr, die Sterbestunde Jesu. Wie an jedem Tag öffnet sich um diese Zeit die Kirchentür und die Brüder begeben sich auf den Weg zu jener Stelle, wo der Seraph den Glaubensweg des Heiligen mit den Wundmalen Christi krönte. Der La Verna ist ein Ort der Buße und der geistlichen Annäherung an das Geheimnis der Passion. Dem entspricht die ernste, würdevolle Stimmung. Ich höre zum ersten Mal die lauretanische Litanei. Angelangt am Ort der Stigmatisierung, der Kapelle der Wundmale, verstummt der Gesang. „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige und in Ehrfurcht vor ihm beuge.“ Ich spüre: Schweigen ist die angemessene Haltung vor diesem Mysterium. Das Geheimnis dieses Ortes erhebt meine Seele und erschüttert sie zugleich. Ich muss gestehen: Als ich später allein in meiner winzigen, ungeheizten Zelle sitze, ergreifen mich Fluchtgedanken! Ich ziehe mir den Mantel an, lege mir eine Decke um die Schulter. Alles vergeblich. Das Frösteln kommt von innen. Vor meinen inneren Augen wandelt die lange Galerie von Märtyrerportraits, die vor meiner Zelle im Flur hängen: Die Bilder halten detailliert die grauenhaften Todesarten fest. Wie weit würde ich mit Christus gehen, wenn mein Bekenntnis auf die Probe gestellt würde? Würde ich flüchten, um mein Leben zu retten oder standhalten? Ja oder nein! Entweder - oder! Die Wahrheit fordert eine Entscheidung. Vor ihr gibt es keine Neutralität. Deshalb versetzte Dante die neutralen Engel in die Hölle.
Irgendwann klopft Franz an die Zellentür. Wir gehen zum Abendgebet (Vesper). Anschließend verharren wir eine Stunde lang in der Stille vor dem ausgesetzten Allerheiligsten. Christus ist gegenwärtig. Geheimnis des Glaubens: Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir... Ich schaue ihn nicht an. Mein Auge sucht Farbiges, das die warmen Blautöne der Keramiken von Andrea Della Robbia mir schenken. Auf einer begleiten liebliche Engelsgestalten die Muttergottes bei ihrer Himmelfahrt, auf der anderen Keramik schweben sie voller Mitleid weinend unter dem Gekreuzigten. Erhöhung und Erniedrigung, Freude und Leid, Tod und Auferstehung – das Geheimnis unseres Lebens findet seinen Ausdruck im Symbol des Kreuzes. Als ich jetzt mit innerer Ruhe auf die Hostie blicke, erscheint in ihr das Kreuz. Meine Gedanken sind bei dem Vater.
Am nächsten Morgen betreten wir die feuchte Höhle, „das Bett des heiligen Franziskus“ genannt, weil der Heilige an dieser Stelle auf nacktem Felsen ruhte, wenn er Zuflucht vor den Stürmen des Winters suchte. Ein Eisenrost schützt den Felsen vor Reliquienjägern, die Steine aus ihm schlagen. In einer tieferen Stelle der Höhle liegt Sand. Ich tüte eine kleine Probe ein, um sie dem Vater daheim ans Bett zu bringen.
Den Sand vom Ruheplatz des Heiligen habe ich dem Vater gebracht. In seiner Sammlung von Sanden aus allen Teilen der Welt nimmt er einen Ehrenplatz ein. Die Chemotherapie hat der Ausbreitung der Krankheit Einhalt geboten, sagt er. Ich berichte von der Fahrt nach Assisi. An Gott glaube er nicht, meint er, ermuntert mich aber, weiterhin Kerzen für ihn anzuzünden und zu beten. Jeder Mensch birgt in sich ein Geheimnis. Er selbst kann es nicht ergründen. Wie sollten wir es dann verstehen? Einer kenne das Geheimnis unseres Lebens und halte es in seinen Händen, glaubte Franz. Er schicke den Schmerz und zugleich die Kraft, ihn in eine Perle zu verwandeln.