Die erste Reise eines Menschen liegt außerhalb der Zeit. Ein Engel begleitete die Seele auf dem Weg in den Mutterleib. Die frühen Wege der Schwangeren werden von ihrem Kind geteilt. Niemand kann über diese Reisen aus eigener Erfahrung berichten. Auch nicht Johannes, der Jesus taufen sollte. Die schwangere Maria ging über das Gebirge zu einer Verwandten. Das ungeborene Kind im Leib der Elisabeth hüpft vor Freude (Lk 1, 41) und nimmt schon vor der Geburt sein Täuferamt war. Wir sind, was wir sind, von Ewigkeit her.

Meine Mutter hatte beide Eltern unter dem Russen verloren. Ihre Tanten waren nach Amerika ausgewandert. Sie wollte ihnen mit ihrem Bruder folgen. Dann kam ich. Sie blieb, wohin sie die Liebe geführt hatte. Ich war dabei, wenn die Eltern Fahrradtouren im Münsterland unternahmen. Ich lag behütet, während sie sich bei der Arbeit die Beine in den Bauch stand. Die Mutter trug mich beim Richtfest unter ihrem Herzen, als sie im Hochsommer 1955 über die Leiter zur Krone aufstieg. Keine pränatale Psychologie kann diese frühen Prägungen erschließen. Wir kommen aus dem Geheimnis. Es ist so unergründlich wie das Meer.

Auf der Kurischen Nehrung wohnten die Großeltern. Jeden Sommer fuhr die Mutter als junges Mädchen mit dem Dampfer von Cranzbeek nach Schwarzort. Ihr weißes Kaninchen war immer mit dabei. Der Osten war in einem Flammenmeer untergegangen. Tante Ulla und ihre Schwester Rosemarie waren blutjunge Marinehelferinnen auf der Wilhelm Gustloff. Sie hatten den Untergang des Schiffes und ihren Sturz ins eisige Wasser der Ostsee überlebt. Warum zerbrechen manche Menschen an schrecklichen Erfahrungen? Warum gehen andere mit ungebrochener Zuversicht aus ihnen hervor und überschreiten munter das 95. Lebensjahr? Kann man Seelenruhe und Resilienz lernen? Ist alles Gnade?

 

 

Borkum wurde zu einem Ersatz für das verlorene Paradies der Kindheit. Wir fuhren mit der Dampflok von Münster nach Emden. Durch die geöffneten Fenster wehte  Ruß vom Feuerross. Er roch nach Abenteuer und Wildem Westen. Statt der Bisons standen Kühe in Halbtrauer auf Weideland. Amerika. Die neue Heimat der Verwandten. Ich trug die abgelegte Kleidung der Kinder aus Cleveland. Hemden statt Sweatshirts. Von Emden ging es weiter nach Emden Außenhafen. Hier wartete bereits der Dampfer, der uns in zweistündiger Fahrt auf die Insel bringen sollte. Während  viele Männer unter Deck Zigaretten qualmten und ein erstes Bier zischten, saß der Vater mit uns auf dem Oberdeck. Hier herrschte beim Ablegen des Dampfers eine andächtige Stille. Das Meer ist heilig. Ein sakramentaler Raum. Fruchtwasser der Schöpfung. Seelenraum.

Der Vater liebte die Berge. Deshalb führte eine frühe Reise nach Mittelberg ins Kleine Walsertal. Die Bilder in dem Photoalbum, das damals für mich angelegt wurde, habe ich im Kopf. Die gemeinsame Betrachtung der Alben gehörte zu den Ritualen der Erinnerung und Innigkeit in fernsehloser Zeit. Meine eigene Erinnerung beginnt mit Borkum 1959. Mit dieser Reise hatte der Vater die Berge hinter sich gelassen.

Die Fahrt wurde zu einer Einweihung. Ich erlebte Urszenen des Lebens. Rückblick und Ausblick. Abschied und Erwartung. Die wenigen Menschen an der frischen Seeluft schauten auf das immer kleiner werdende Land. Auf dem offenen Meer war alles Horizont. Und hier im Unbegrenzten mochte sich jener unendliche Raum der Innigkeit und Erinnerung öffnen, aus dem die Mutter lebte. Aus ihm bestand sie die Prüfungen des Lebens. Reisen haben immer etwas nicht Planbares. Manchmal geschieht das Unwahrscheinliche. Der Vater liebte die Inspektion des Schiffes bis in den letzten Winkel. Er entdeckte irgendwo den Hinweis: Das Schiff nach Borkum war jener Dampfer aus der Kindheit der Mutter. Mit ihm war sie auf die Kurische Nehrung gefahren. Vielleicht hatte er in den letzten Kriegsmonaten Vertriebene wie Agnes Miegel nach Dänemark gebracht und war dann auf wunderliche Weise auf die ostfriesischen Inseln gekommen. Zu den Fügungen, deren ich Zeuge wurde, gehörten Begegnungen auf dem Oberdeck. Nachdem die Horizonte verschwommen waren, hatte die Mutter in den Gesichtern der Fahrgäste gelesen. Dann stand sie auf und ging auf den fremden Menschen zu, sprach ihn an und bekam bestätigt, was sie gesehen hatte: Da war auch jemand von Drüben. Er hatte das Inferno überlebt. Woran erkennt man Überlebende? Da gibt es viele Gesichter und gewiss keine physiognomische Wissenschaft. Das Gesicht auf dem Schiff war offen und klar, als blickte es über den Horizont hinaus. Es gibt ein Netzwerk des Lebens. Manchmal wird es sichtbar.

Der Vater war wie sein Vater Eisenbahner. So wohnten wir im Gästehaus Rote Erde der Deutschen Bundesbahn gegenüber dem Leuchtturm. Wir lebten in der großen Stille. Täglich wurde am Strand der Horizont abgeschritten. Irgendwo aus der Tiefe des Meeres konnte jederzeit ein Schiff auftauchen. Ein Fernglas hatten wir nicht. Das bloße Auge reichte, besonders bei der „Heimlichen Liebe“. Das war ein Café am Ende der hohen Promenade, dort wo die Bunker aus dem letzten Krieg in den Dünen lagen. Das Vergangene war auch hier reale Gegenwart. Schönheit und Schrecken gehören zum Meer des Lebens.

Natürlich sind dies Deutungen früher Erfahrungen aus dem Rückblick. Annäherungen an das Geheimnis des eigenen Lebens. Töne der eigenen Seelenmelodie. Jeder Mensch hat sie auf seine eigene Art erfahren.  Mit dem Vater saß ich auf der weißen Bank und schaute in adventlicher  Stimmung auf die See. Wann würde ein neues Schiff geladen bis an sein höchsten Bord kommen? Woher kam es? Wohin würde es fahren? Oberhalb der Bank befand sich ein Lautsprecher, der gab die Antwort. Das Schiff und seine Mannschaft wurden begrüßt, Heimathafen und Ziel genannt. Dann erklang die Nationalhymne jenes Landes, unter dessen Fahne das Schiff fuhr. Der Vater war Briefmarkensammler und kannte alle Länder dieser Erde.

Am Meer gleicht kein Tag dem anderen. Eben noch lachte die Sonne, dann ziehen dunkle Wolken auf. Die nasse Kleidung trocknet  auf der Haut. Quallen treiben im Wasser. Ein Baumstamm wird von den Wellen an den Strand getragen. Ständig wandelt sich das Meer im Wechsel der Gezeiten. Wenn ich bei Ebbe in der Brandung stehe, ergreift mich ein Sog. Der Sand entgleitet unter meinen Füßen und fließt ins Meer zurück. Ich stelle mir vor, eine Nixe wolle mich ins Wasser ziehen. 

Der Vater liebte die kleinen Meerjungfrauen, aber er glaubte nicht, dass es sie wirklich gäbe. Doch die Gefahr, beim Baden in eine Strömung zu geraten, hielt er für real. Deshalb schärfte er mir ein, nur bei Flut zwischen den Wellen zu schwimmen. Den rechten Zeitpunkt für den Sprung ins feuchte Element kannte er genau, denn er studierte den Tidekalender wie einen Fahrplan der Deutschen Bundesbahn.
   
Wenn ich heute die Hoch- und Niedrigwasserstände lese, ist mir der Vater sehr nahe. Er liebte das Meer, weil er die Mutter liebte. Hier wollte er eines Tages seine letzte Ruhestätte finden. Ich hebe den Blick vom Gezeitenkalender und schaue durch die Fenster auf das Wasser. In der Ferne sehe ich die Insel der Kindheit. Auf Borkum wurden die Geschwister wie Geschenke des Meeres empfangen und kamen im folgenden Frühjahr zur Welt.

Buhnen heißen jene Bauwerke, die weit in das Meer ragen und die Wucht der Wellen mindern sollen. Der Vater nannte sie Wellenbrecher. Bei Ebbe bilden sie einen Ruheplatz für die Möwen. Hier leben Miesmuscheln in großen Kolonien und haften mit ihren Byssusfäden an Steinen und Pfählen. Bei Flut verschwinden sie im Wasser.

Warum hat sich mir das Bild der Miesmuschel-Kolonie eingeprägt? Warum habe ich so viele andere Eindrücke vergessen? Warum erinnere ich mich ein Leben lang an scheinbar belanglose Dinge? Früh hat mich ein Bild gebannt. Nun beginne ich sein Geheimnis zu verstehen.

Ich bin ergriffen von der Standhaftigkeit dieser Muscheln. Sie erinnert mich an das Leitwort der Stabilitas loci (Beständigkeit am Ort) der Benediktiner. Sie trotzen den größten Brechern und überleben den ständigen Wechsel der Gezeiten. Bei Ebbe schließen sie ihre Muschelschalen und schützen so ihr Inneres. Der Flut öffnen sie sich. Die Muscheln zeigen mir eine Überlebenstechnik. Ständig wandelt sich mein Leben im Meer der Gezeiten. Zugleich lebt in mir ein Unwandelbares. Ich bleibe, der ich bin. Manchmal erschreckt mich diese Erfahrung, manchmal tröstet sie mich und schenkt mir die Resilienz eines Wellenbrechers. Wir durchschreiten eine große Zeit des Wandels. Ihr Ende liegt in weiter Ferne und wird von den jetzt Lebenden wohl nicht mehr geschaut werden. Beim Propheten Jeremia (1, 5) lese ich: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete.“ Welch ein Trost!