Von Frankfurt ging der Flug nach Bahrain. Hier kamen pakistanische Wanderarbeiter an Bord. Der nächste Zwischenstopp war die Millionenstadt Karatschi. Dann führte die Reise vom Rand des Indischen Ozeans nach Peshawar. Die Stadt am Khyber-Paß liegt unter einer dichten Staubglocke. Doch nicht aus Gründen der Umweltverschmutzung gilt sie als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Deshalb wurde mir ein afghanischer Leibwächter zur Seite gestellt. Seine Gegenwart erwies sich gleich beim ersten Besuch des Sadar Bazar als segensreich. Ein bewaffneter Mann trat mir in den Weg und fragte mich, ob ich an Gott glaube. Gewiss! Ob ich auch glaube, dass Mohammad sein Prophet sei. Rasch hatte sich eine Menschenmenge um uns gebildet. Mein Begleiter übersetzte meine Antwort. Dann führte er mich rasch weiter.
Christen gelten in Pakistan als Ungläubige (Kāfir). Frauen werden entführt, missbraucht und zur Konversion gezwungen. Schändungen von Gotteshäusern und Friedhöfen kommen häufig vor. Um Provokationen zu vermeiden, steht auf den meisten Kirchen kein Kreuz. Die katholische St. Michael’s Church am Sadar Bazar ist sogar zur Tarnung im Stil einer Moschee gebaut. 2013 zündeten zwei Selbstmordattentäter Bomben in der Allerheiligenkirche von Peshawar an der Kohati Gate. 87 Katholiken wurden getötet, 145 verletzt. Pastor William Silray wurde im Januar 2022 in Peshawar erschossen. Meine Reise fand im Herbst des Jahres 1996 statt. Nach der russischen Arktis sollte ich ein Land kennenlernen, in dem der Islam Staatsreligion ist.
Vor den Toren Peshawars liegt das afghanische Stammesgebiet (Tribal Areas) der Pathanen. In Paschtu haben Dichter wie Khushhal Khan Khatak, der Kriegerpoet der Pathanen, den geistigen und militärischen Widerstand gegen die Mogulherrscher formuliert, und noch heute lebt hier der Traum vom Land Paschtunistan, in dem der Nordwesten Pakistans mit dem Osten Afghanistans vereint ist.
Hamid ist Pathane, Leiter einer Privatschule und stolzer Besitzer eines 26 Jahre alten VW-Käfers. Vierspurig brandet der Verkehr durch die Stadt. Zwischen überladenen Bussen und buntbemalten Motorrikshas trotten Eselskarren und Wasserbüffelgespanne. Man ruft sich zu, schreit, schimpft, lacht und flucht. Die linke Hand am Steuer, die rechte auf der Hupe. Die schwarzweiß gemusterten Halstücher der Männer, in der Mittagsglut zum Abtupfen des Schweißes benutzt, dienen jetzt in der Abenddämmerung als Atemschutz. Der Polizist am Straßenrand trägt eine Maske. Durch die verschmutzten Scheiben des Wagens ist nur wenig zu sehen. Hamid reißt das Steuer nach links, um einem Kameltreiber und seinen Tieren auszuweichen. Die Sonne ist untergegangen. Trotzdem fahren die meisten Fahrzeuge ohne Licht oder haben wenigstens die Rückleuchten ausgeschaltet. Man glaubt auf diese Weise die Energie der Autobatterie zu schonen. Ja, das sei sehr gefährlich, kommentiert Hamid. Jeden Moment könne ein Unfall passieren - Inschallah. Wenn Gott will, sagte auch der Pilot beim Anflug auf Peshawar, werde das Flugzeug sicher landen. Bodenwellen sollen den schnellen Verkehr bremsen. Doch niemand drosselt das Tempo. Wenn der Wagen über sie springt, lacht Hamid: „German car is good for jumping!“ Und er zeigt stolz auf die Mitte des Lenkrades mit den Symbolen „Wolf“ und „Burg“. Autos, die in Deutschland aus ökologischen Gründen „entsorgt“ wurden, fahren hier noch über Jahrzehnte.
Zwei Engel wolle er mir vorstellen, hatte Hamid gesagt. An der großen Straße Nummer 5 nach Jalalabad (Afghanistan) rasten Truckfahrer. Das Restaurant besteht aus einem großen offenen Raum ohne Mobiliar. Mit dem Verzehr einer Mahlzeit erwirbt sich der Gast das Recht der Übernachtung auf einer der nackten Holzpritschen. Fünfzig Fernfahrer liegen nebeneinander ausgestreckt und richten ihre Blicke auf einen Fernsehapparat. Es läuft ein Bollywood-Film mit unverschleierten Frauen - „dirty pictures“. Geschminkte Frauen ohne Burka gelten als Huren. Gekocht wird vor dem Restaurant. Aus einem Topf schöpft der Wirt Reis und füllt ihn in eine Plastiktüte. Scharfgewürztes Fleisch gibt er auf ein Schälchen. Der Bäcker holt aus dem Feuerloch im Boden sechs runde Fladenbrote. Sie ersetzen als Eßhilfe den Gebrauch von Messer und Gabel.
Straße und Basar gehören zur Welt des Mannes. Hier geschieht alles öffentlich: die Bezeugung des Glaubens wie die Geschäfte des Geldwechslers, das Ausweiden der Schlachttiere und das Mahlen der Gewürze. Alles wird recycelt: Der Dentist kramt in alten Gebissen und sucht einen passenden Zahnersatz, der Messerverkäufer demonstriert an einem Eisenpfahl die Schärfe der Schneide aus russischem Raketenstahl. Am Straßenrand arbeitet der Friseur, und der Schuster flickt einen Koffer. Aus der Presse fließt der Saft des Zuckerrohrs, während nebenan ein Motor zerlegt wird. Hinter dem Schleier und der Haustür verborgen liegt die Welt der Frau. Hier legt sie den Ganzschleier der Burka ab. Wer es sich leisten kann, setzt auf sein Haus, wie zu Bathsebas Zeiten, eine Dachterrasse mit hohen Mauern, damit Frauen und Töchter im Freien wandeln können. Auch wir sind im inneren Bezirk angekommen. „Meine Engel!“ Dass die beiden Lehrerinnen einem Orden angehören, ist ihnen äußerlich nicht anzusehen. Durch päpstlichen Dispens ist es ihnen erlaubt, das Ordensgewand abzulegen. Eine überlebenswichtige Vorsorge. Draußen tragen sie den landesüblichen Schleier.
Hamid verteilt das Essen und schenkt Cola ein. Noch in den letzten Dörfern des Karakorum und des Hindukusch steht neben der Moschee eine Werbung für Pepsi-Cola. In Pakistan herrscht striktes Alkoholverbot. Weder in den Duty-Free Läden der Flughäfen noch in den Bars der großen Hotels ist er offiziell erhältlich. Doch hinter dem Schleier sind nicht nur Frauen verborgen. Plötzlich steht eine Flasche Whiskey auf dem Tisch. Auch Hamids Engel nippen am Glas.
Den Genuss von Alkohol habe Muhammed (570-632) untersagt, so heißt es, nicht aber das Rauchen von Drogen. Die Sufis beim Schrein des Chishti-Mystikers Abdul Rahman (1651-1709) begrüßen uns. Es ist Donnerstagnacht. Bald beginnt Juma, der islamische Feiertag. Grund, durch Tanz und Musik Gott zu preisen. Der Mullah pocht auf den arabischen Urtext des Koran, der Mystiker aber sieht das Geheimnis Gottes auch in der Mitte der Rosenblüte und im aufsteigenden Duft des cardamomgewürzten Tees.
Abdul Rahman, den die Pathanen Baba (Vater) nennen, sang von Gottes Allmacht: „Vor ihm wirft sich die Erde betend nieder, der Himmel beugt sich im Gebet vor ihm“, übersetzt Annemarie Schimmel. „In seinem Lobpreis sind beständig alle, ob’s Engel sind, ob Geister, ob der Mensch. Sein Lob verkündet jeder Fisch im Wasser, im Hain singt jeder Vogel seinen Preis.“ Rahman Baba gehören diese Nacht und der kommende Tag. Sein Schrein liegt inmitten eines riesigen Gräberfeldes. Die Straße zum Heiligtum führt durch eine Region, in der Mörder, entflohene Häftlinge und Diebesgesindel ihr Unwesen treiben sollen. Jederzeit könnten sie uns auf den unbeleuchteten Straßen überfallen, kommentiert Hamid. Inschallah. Doch Gott ist heute gnädig. Wir aber passieren in dieser Nacht alle Straßensperren.
Auf überdachtem Platz in der Mitte eines Gartens sitzt der alte Sänger. Er hält die Augen geschlossen, denn die zweizeiligen Paschtoverse (landay) des litaneiartigen Gesanges (qawwali) stehen in seiner Seele geschrieben. Die königsblaue Farbe von Umhang und Turban kennzeichnen seinen Rang. Drei Musikanten begleiten ihn mit Schlaginstrumenten: einer Art Bongo und einer umgedrehten Waschschüssel. Im Sprechgesang rezitiert der Alte Rahman Babas Gottespoesie, seine Schüler wiederholen die Worte. So wurden durch Jahrtausende die großen religiösen Dichtungen der Menschheit tradiert, so memorieren Pakistans Kinder noch heute die arabischen Suren, ohne ihren Inhalt zu verstehen. Musik ist Magie. Unter den Schülern des Alten sehe ich Gesichter mit heller Hautfarbe. Die Verwandtschaft der Afghanen mit den Völkern Nordeuropas wird gerne betont. „Wir sind Arier wie die Deutschen“, erklärt ein Mann mit blauen Augen. Soll ich ihm Geschichtsunterricht geben?
Die Jungen begleiten nun den Meister mit rhythmischem Händeklatschen. Zuweilen blitzt der Griff eines Revolvers unter ihren Gewändern hervor. Pathanen sind Waffenliebhaber. In Bannu, Kohat und besonders in Darra Adam Khel baut der Büchsenmacher innerhalb einer Woche jedes gewünschte Objekt nach. Auf Holzpritschen in der Hütte nebenan ruhen die Alten. Auch hier in der Küche (langar), die nach altem Brauch jedem Gast offensteht, ist die Luft vom süßlichen Duft geschwängert. Tee kreist. Ich werde eingeladen, in den innersten Kreis zu treten, lege die rechte Hand auf die Brust und bekunde mit leicht angedeuteter Verbeugung meinen Dank.