Meine Oma Selma (1899-2003) pilgerte regelmäßig nach Rom. Die Busreise wurde von der Pfarrei St. Ida in Münster organisiert und führte ohne Zwischenübernachtung ans Ziel. Oma Selma liebte es, vom erhöhten Sitz des Busses auf eine Welt im Vorübergehen zu schauen. Noch mit bald einhundert Jahren fuhr sie nach Rom. Ein Enkelsohn begleitete sie. Ich mag kein Bad in der Menge. Doch eines Tages folgte auch ich der Einladung eines Prälaten. Er war im Vatikan nicht nur hervorragend vernetzt, sondern hatte Zugang zu vielen Entscheidungsträgern. Einige von ihnen wollte auch ich kennenlernen. Der Prälat hatte Lutheraner und Reformierte, Christen aus Osteuropa und Russland in einige Geheimnisse des Vatikan eingeweiht. Er sah darin eine ökumenische Aufgabe. Bald entdeckte auch ein deutscher Bischof den Segensreichtum dieser Reisen. Es galt norddeutsche Priester durch eine Pilgerfahrt unter der Leitung des Prälaten vom antirömischen Affekt zu heilen. 

Der Prälat hatte meine theologische Dissertation über den Hagiografen Walter Nigg und meine Habilitation über Werk und Leben Edzard Schapers begleitet. Kardinal Kurt Koch stellte die Biografie in der Botschaft des Vatikans in Bern vor. Nun wollte ich mit Mitarbeitenden der Theologischen Fakultät Fribourg den Kardinal am Ort seines Wirkens besuchen. Vor dem gemeinsamen Flug trafen wir uns in Fribourg. Nicht ahnend, dass bald ein Papst aus Argentinien kommen würde, hatte ich angefangen, Tango tanzen zu lernen und war etwas missionärrisch wie viele Konvertiten. Ich hatte die fixe Idee, meinen Freund Michael Felder (1966-2012) in die Welt des Tangos einzuführen. Mit seinem Kumpel Benny besuchten Michael und ich eine Milonga. Benny war ein Border-Colly-Mix, Michael ein katholischer Priester und Professor. Er hatte ein weites, aber sehr schwaches Herz, wie sich zeigen sollte. Michael konnte einfühlsam über die Liebe predigen, Geige, Klavier und Orgel spielen, Kinder wickeln, junge Mütter trösten, Eheprobleme lösen und sehr viel mehr. Nur zum Tangotanzen konnte ich ihn nicht verführen, so oft ich auch von Kontemplation und Transzendenz sprach. 

„Tango tanzen – das ist ein Ritual, ein beinahe religiöser Akt“, sagt León Benarós (1915-2012). Ich denke, er hat Recht. Im Zeichen des Kreuzes setzten Benny, Michael und ich uns in eine Ecke des Tanzlokals und beobachteten die Tanzenden: Benny trug ein rotes Halsband mit weißen Kreuzen, Michael hielt sein Gebetbuch mit goldenem Kreuz auf dem Buchdeckel in den Händen und tat so, als lese er einen Psalm. Eine Frau war mir aufgefallen, weil sie dem Tanzlehrer folgend, anmutig über das Parkett schwebte und dabei die Füße mit einer atemberaubenden Leichtigkeit kreuzte. An diesem Glück der Berührung, der Bewegung, der Verdichtung und der erneut fließenden Energie wollte ich Anteil haben. Ich war aufgeregt, vergaß alles, was ich über die korrekte Aufforderung zum Tanz gelernt hatte und stürmte auf das Parkett. Dann blieb ich vor der Tänzerin stehen, lächelte und fragte, ob sie mir die Gunst des nächsten Tanzes schenke. Es kam eine schnelle Milonga, deren Rhythmus ich als Anfänger nicht gewachsen war. Ich hatte mich in eine aussichtslose Lage manövriert und versuchte meine Verlegenheit zu überspielen, indem ich während des Tanzes ein Gespräch begann. Die Frau ertrug mich drei Tänze lang mit Engelsgeduld und verabschiedete sich mit einem Lächeln. Es war aber nicht jenes holde Lächeln aus innerer Schönheit, sondern ein Blick voll Mitleid und Erbarmen. Doch Michael erwies sich einmal mehr als erfahrener Seelsorger. Krisen und Kreuzwege gehören nun einmal zum Leben, sagte er und führte mich an die frische Luft.

Am nächsten Tag flogen Michael und ich mit dem Prälaten nach Rom. Hier kannte er fast jeden Winkel der Stadt. Er liebte die stillen Momente in einem Straßencafé mit Blick auf die wogende Menge. Wir wohnten wie die Kardinäle während des Konklaves im Gästehaus Domus Sanctae Marthae der Vatikanstadt. Hier bezog später Papst Franziskus einige Zimmer. Von der großen Dachterrasse unseres Hotels hatten wir einen direkten Blick auf die Zimmer des Apostolischen Palastes. Michael und ich zogen durch die Gassen von Rom, aßen hier eine Kleinigkeit, tranken dort einen doppelten Espresso und kamen in die Via di Santa Chiara 34 zu Anibale Gammarelli, dem Schneider der Päpste seit 1798. Gammarelli hatte für Pius IX., Johannes XXIII., Johannes Paul II. und viele Bischöfe von Rom das weiße Gewand angefertigt. Doch stattete er auch Priester, Bischöfe und Kardinäle aus. Michael brauchte ein neues Stehkragenhemd, wie Priester sie tragen. Ich mag Hemden mit Stehkragen. Sie würden mich gewiss beim Tanzen gut kleiden. Dann entdeckte ich leichte rote Socken. Ein schöner Kontrast zu meiner schwarzen Hose und den Schuhen meines Vaters, mit denen ich tanzte! Michael sagte, diese Socken werden von Kardinälen getragen. Der Verkäufer schaute auf meine lange Haare, die ich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und fragte Michael, ob ich Organist sei. Nein, Schriftsteller, antwortete Michael. Da lachte der Mann und verkaufte mir sechs Paar rote Kardinalssocken. Mit ihnen habe ich viel getanzt. Sie sind wunderbar leicht, haben einen kräftigen Ton, aber sie halten nicht lange.

In Rom gibt es für Pilger gewiss wichtigere Ziele als den Laden von Anibale Gammarelli. Wir haben unter der Führung des Prälaten einige Kirchen, Klöster und Museen gesehen. Vielleicht liegt es an meinem Sinn für das Abseitige und die Dinge am Wegesrand, dass mich beim Besuch der Kirche San Pietro in Vincoli weder das Kenotaph mit dem Moses des Michelangelo für Papst Julius II. noch das Grab Nikolaus von Cues in erster Linie in den Bann schlugen, sondern die Ketten, die Petrus in jenem Gefängnis getragen hatte, aus dem ihn ein Engel befreite (Apg 12,6ff.). Nicht dieses Wunder hatte mich seit jeher fasziniert, sondern die beinahe verpasste Begegnung des Befreiten mit seiner Gemeinde. Die hatte sich hinter verschlossenen Türen in einer Art Konklave versteckt und unablässig für die Befreiung des Petrus gebet. Nun stand er vor der Tür. Das Gebet war erhört worden, aber die Beter glaubten es nicht. Ist das ein Bild für die Lage der Kirche heute? Vertraut sie noch auf ihre Gebete?

Hinter den Türen des Vatikan fanden wir unter der Führung des Prälaten keine Beter, sondern kundige Experten für alle Bereiche der Organisation des Kirchenstaates. Wir lauschten ihren Vorträgen und führten Gespräche mit dem Kardinal. Seit meinem Besuch bei Gammarelli hatte ich einen geschärften Blick für die Garderobe der Diener Gottes. So war ich dankbar, in dem Kompetenzteam auch einen Spezialisten für Kleiderfragen zu finden. 

Zu Beginn eines Konklaves, sagte der Monsignore, fertige der Schneider drei komplette Ausstattungen in unterschiedlichen Größen: Die weiße Soutane mit dem Zingulum, das kurze Cape (Mozetta) und das Käppi (Pilolus). Ein roter Allwettermantel und ein mit Hermelinpelz für kalte Tage. Als Winterbekleidung das Camauro, ein rotes Samtmützchen mit weißem Pelzrand, in dem der deutsche Papst sehr fröhlich und entspannt aussah. Seit Johannes XXIII. hatte es kein Papst mehr getragen. Ein roter Saturno schützt im Sommer das Haupt des Papstes. Die roten Schuhe werden von Adriano Stefanelli aus Novara im Piemont abgefertigt. Auch sie kleideten den deutschen Papst sehr gut. Nur, sagte mein Informant, wenn ich schweigen könne, werde er mir ein Geheimnis anvertrauen. „Ich bin Schriftsteller!“, sagte ich. „Dann schreiben sie die Wahrheit über die Kleidung des deutschen Papstes: Sie wurde nicht von Gammarelli, sondern dem viel preiswerter arbeitendem Schneider Eurocleoro angefertigt. Er hat bereits den Kardinal Ratzinger ausgestattet.“

Meine Oma Selma hatte in Breslau den Beruf der Schneiderin erlernt. Noch in ihren letzten Lebensjahren führte sie die Nadel. Ich weiß nicht, wie sie ihre römischen Pilgertage verbrachte. Gewiss wird sie auf der langen Busfahrt gelbe Spitzen an weiße Taschentücher für indische Waisenkinder gehäkelt haben. Die Kleiderfrage der Päpste hätte sie gewiss interessiert. Sie war dabei, als Johannes Paul II. in tadellos sitzender Soutane den Münsteraner Dom besuchte und betend vor dem Grab des Löwen von Münster niederkniete, ohne sich die Kleidung schmutzig zu machen. Ja, Oma Selma achtete auf jedes Detail. Das letzte Heilige Jahr 2000 erlebte die Hundertjährige noch in geistiger Frische. „In 25 Jahren“, sage sie zu mir, „wirst du deinen 70. Geburtstag feiern. Mitten im neuen Heiligen Jahr 2025. Das ist ein gutes Zeichen. Mache etwas daraus!“