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Rom 2010

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Uwe Wolff
Wolff auf Reisen
23. Juli 2021
Zugriffe: 4315


Meine Oma Selma (1899-2003) pilgerte regelmäßig nach Rom. Die Busreise wurde von der Pfarrei St. Ida in Münster organisiert und führte ohne Zwischenübernachtung ans Ziel. Oma Selma liebte es, vom erhöhten Sitz des Busses auf eine Welt im Vorübergehen zu schauen. Noch mit bald einhundert Jahren fuhr sie nach Rom. Ein Enkelsohn begleitete sie. Ich mag kein Bad in der Menge. Doch eines Tages folgte auch ich der Einladung eines Prälaten. Er war im Vatikan nicht nur hervorragend vernetzt, sondern hatte Zugang zu vielen Entscheidungsträgern. Einige von ihnen wollte auch ich kennenlernen. Der Prälat hatte Lutheraner und Reformierte, Christen aus Osteuropa und Russland in einige Geheimnisse des Vatikan eingeweiht. Er sah darin eine ökumenische Aufgabe. Bald entdeckte auch ein deutscher Bischof den Segensreichtum dieser Reisen. Es galt norddeutsche Priester durch eine Pilgerfahrt unter der Leitung des Prälaten vom antirömischen Affekt zu heilen. 

Der Prälat hatte meine theologische Dissertation über den Hagiografen Walter Nigg und meine Habilitation über Werk und Leben Edzard Schapers begleitet. Kardinal Kurt Koch stellte die Biografie in der Botschaft des Vatikans in Bern vor. Nun wollte ich mit Mitarbeitenden der Theologischen Fakultät Fribourg den Kardinal am Ort seines Wirkens besuchen. Vor dem gemeinsamen Flug trafen wir uns in Fribourg. Nicht ahnend, dass bald ein Papst aus Argentinien kommen würde, hatte ich angefangen, Tango tanzen zu lernen und war etwas missionärrisch wie viele Konvertiten. Ich hatte die fixe Idee, meinen Freund Michael Felder (1966-2012) in die Welt des Tangos einzuführen. Mit seinem Kumpel Benny besuchten Michael und ich eine Milonga. Benny war ein Border-Colly-Mix, Michael ein katholischer Priester und Professor. Er hatte ein weites, aber sehr schwaches Herz, wie sich zeigen sollte. Michael konnte einfühlsam über die Liebe predigen, Geige, Klavier und Orgel spielen, Kinder wickeln, junge Mütter trösten, Eheprobleme lösen und sehr viel mehr. Nur zum Tangotanzen konnte ich ihn nicht verführen, so oft ich auch von Kontemplation und Transzendenz sprach. 

„Tango tanzen – das ist ein Ritual, ein beinahe religiöser Akt“, sagt León Benarós (1915-2012). Ich denke, er hat Recht. Im Zeichen des Kreuzes setzten Benny, Michael und ich uns in eine Ecke des Tanzlokals und beobachteten die Tanzenden: Benny trug ein rotes Halsband mit weißen Kreuzen, Michael hielt sein Gebetbuch mit goldenem Kreuz auf dem Buchdeckel in den Händen und tat so, als lese er einen Psalm. Eine Frau war mir aufgefallen, weil sie dem Tanzlehrer folgend, anmutig über das Parkett schwebte und dabei die Füße mit einer atemberaubenden Leichtigkeit kreuzte. An diesem Glück der Berührung, der Bewegung, der Verdichtung und der erneut fließenden Energie wollte ich Anteil haben. Ich war aufgeregt, vergaß alles, was ich über die korrekte Aufforderung zum Tanz gelernt hatte und stürmte auf das Parkett. Dann blieb ich vor der Tänzerin stehen, lächelte und fragte, ob sie mir die Gunst des nächsten Tanzes schenke. Es kam eine schnelle Milonga, deren Rhythmus ich als Anfänger nicht gewachsen war. Ich hatte mich in eine aussichtslose Lage manövriert und versuchte meine Verlegenheit zu überspielen, indem ich während des Tanzes ein Gespräch begann. Die Frau ertrug mich drei Tänze lang mit Engelsgeduld und verabschiedete sich mit einem Lächeln. Es war aber nicht jenes holde Lächeln aus innerer Schönheit, sondern ein Blick voll Mitleid und Erbarmen. Doch Michael erwies sich einmal mehr als erfahrener Seelsorger. Krisen und Kreuzwege gehören nun einmal zum Leben, sagte er und führte mich an die frische Luft.

Am nächsten Tag flogen Michael und ich mit dem Prälaten nach Rom. Hier kannte er fast jeden Winkel der Stadt. Er liebte die stillen Momente in einem Straßencafé mit Blick auf die wogende Menge. Wir wohnten wie die Kardinäle während des Konklaves im Gästehaus Domus Sanctae Marthae der Vatikanstadt. Hier bezog später Papst Franziskus einige Zimmer. Von der großen Dachterrasse unseres Hotels hatten wir einen direkten Blick auf die Zimmer des Apostolischen Palastes. Michael und ich zogen durch die Gassen von Rom, aßen hier eine Kleinigkeit, tranken dort einen doppelten Espresso und kamen in die Via di Santa Chiara 34 zu Anibale Gammarelli, dem Schneider der Päpste seit 1798. Gammarelli hatte für Pius IX., Johannes XXIII., Johannes Paul II. und viele Bischöfe von Rom das weiße Gewand angefertigt. Doch stattete er auch Priester, Bischöfe und Kardinäle aus. Michael brauchte ein neues Stehkragenhemd, wie Priester sie tragen. Ich mag Hemden mit Stehkragen. Sie würden mich gewiss beim Tanzen gut kleiden. Dann entdeckte ich leichte rote Socken. Ein schöner Kontrast zu meiner schwarzen Hose und den Schuhen meines Vaters, mit denen ich tanzte! Michael sagte, diese Socken werden von Kardinälen getragen. Der Verkäufer schaute auf meine lange Haare, die ich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und fragte Michael, ob ich Organist sei. Nein, Schriftsteller, antwortete Michael. Da lachte der Mann und verkaufte mir sechs Paar rote Kardinalssocken. Mit ihnen habe ich viel getanzt. Sie sind wunderbar leicht, haben einen kräftigen Ton, aber sie halten nicht lange.

In Rom gibt es für Pilger gewiss wichtigere Ziele als den Laden von Anibale Gammarelli. Wir haben unter der Führung des Prälaten einige Kirchen, Klöster und Museen gesehen. Vielleicht liegt es an meinem Sinn für das Abseitige und die Dinge am Wegesrand, dass mich beim Besuch der Kirche San Pietro in Vincoli weder das Kenotaph mit dem Moses des Michelangelo für Papst Julius II. noch das Grab Nikolaus von Cues in erster Linie in den Bann schlugen, sondern die Ketten, die Petrus in jenem Gefängnis getragen hatte, aus dem ihn ein Engel befreite (Apg 12,6ff.). Nicht dieses Wunder hatte mich seit jeher fasziniert, sondern die beinahe verpasste Begegnung des Befreiten mit seiner Gemeinde. Die hatte sich hinter verschlossenen Türen in einer Art Konklave versteckt und unablässig für die Befreiung des Petrus gebet. Nun stand er vor der Tür. Das Gebet war erhört worden, aber die Beter glaubten es nicht. Ist das ein Bild für die Lage der Kirche heute? Vertraut sie noch auf ihre Gebete?

Hinter den Türen des Vatikan fanden wir unter der Führung des Prälaten keine Beter, sondern kundige Experten für alle Bereiche der Organisation des Kirchenstaates. Wir lauschten ihren Vorträgen und führten Gespräche mit dem Kardinal. Seit meinem Besuch bei Gammarelli hatte ich einen geschärften Blick für die Garderobe der Diener Gottes. So war ich dankbar, in dem Kompetenzteam auch einen Spezialisten für Kleiderfragen zu finden. 

Zu Beginn eines Konklaves, sagte der Monsignore, fertige der Schneider drei komplette Ausstattungen in unterschiedlichen Größen: Die weiße Soutane mit dem Zingulum, das kurze Cape (Mozetta) und das Käppi (Pilolus). Ein roter Allwettermantel und ein mit Hermelinpelz für kalte Tage. Als Winterbekleidung das Camauro, ein rotes Samtmützchen mit weißem Pelzrand, in dem der deutsche Papst sehr fröhlich und entspannt aussah. Seit Johannes XXIII. hatte es kein Papst mehr getragen. Ein roter Saturno schützt im Sommer das Haupt des Papstes. Die roten Schuhe werden von Adriano Stefanelli aus Novara im Piemont abgefertigt. Auch sie kleideten den deutschen Papst sehr gut. Nur, sagte mein Informant, wenn ich schweigen könne, werde er mir ein Geheimnis anvertrauen. „Ich bin Schriftsteller!“, sagte ich. „Dann schreiben sie die Wahrheit über die Kleidung des deutschen Papstes: Sie wurde nicht von Gammarelli, sondern dem viel preiswerter arbeitendem Schneider Eurocleoro angefertigt. Er hat bereits den Kardinal Ratzinger ausgestattet.“

Meine Oma Selma hatte in Breslau den Beruf der Schneiderin erlernt. Noch in ihren letzten Lebensjahren führte sie die Nadel. Ich weiß nicht, wie sie ihre römischen Pilgertage verbrachte. Gewiss wird sie auf der langen Busfahrt gelbe Spitzen an weiße Taschentücher für indische Waisenkinder gehäkelt haben. Die Kleiderfrage der Päpste hätte sie gewiss interessiert. Sie war dabei, als Johannes Paul II. in tadellos sitzender Soutane den Münsteraner Dom besuchte und betend vor dem Grab des Löwen von Münster niederkniete, ohne sich die Kleidung schmutzig zu machen. Ja, Oma Selma achtete auf jedes Detail. Das letzte Heilige Jahr 2000 erlebte die Hundertjährige noch in geistiger Frische. „In 25 Jahren“, sage sie zu mir, „wirst du deinen 70. Geburtstag feiern. Mitten im neuen Heiligen Jahr 2025. Das ist ein gutes Zeichen. Mache etwas daraus!“

Island 2003

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Uwe Wolff
Wolff auf Reisen
07. Juli 2021
Zugriffe: 5988


Kursfahrten gehören zum Bildungsprogramm der Gymnasien. Ich diente an einer Traditionsschule in Hildesheim. Drei Pflichtfremdsprachen, Latein, Griechisch, Englisch, und nach Belieben Hebräisch oder Italienisch boten eine angemessene Herausforderung, um die Lernwilligen und -fähigen bereits in der fünften Klasse angemessen zu fördern und zu fordern. Doch kündigte sich auch in dieser pädagogischen Provinz die neue Zeit an. Noch verfehlte der Versuch eines Elternpaares, beide Abgeordnete der Grünen im Stadtparlament, das unsachgemäße Verhalten ihres Rabauken mit dem Hinweis auf seine Hochbegabung zu rechtfertigen, die erhoffte Wirkung. Der Direktor entgegnete: „Wissen Sie, gnädige Frau, bei uns sind alle hochbegabt.“ Dieser Ton wäre heute ein Grund für die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand.

Die Oberstufe fuhr nach Rom oder nach Athen. Eine Kursfahrt nach Island fiel dagegen völlig aus dem Rahmen. Wohl gerade deshalb bot sie mein Kollege an. Er gehörte zu jenen wahrhaft Hochbegabten, die von der Studienstiftung des deutschen Volkes nicht nur wegen ihrer herausragenden schulischen Leistungen, sondern auch wegen ihrer Eigenwilligkeit gefördert worden waren. Als Reisender in hohen Breitengraden mit Erfahrungen in den Biotopen der russischen Arktis durfte ich seine Gruppe begleiten. 

Die Insel der Trolle und Trottellummen bietet Survialquälität: Statt gehobenem Hotel und dolce vita in römischen Bars und Cafes - Übernachtung auf nacktem Boden. Statt Drei-Gänge-Menü in Athen - Selbstverpflegung aus der Dose oder Fasten. Dafür Natur pur: Vulkane und Geysire, Papageientaucher und Raubmöven. Island ist teuer. Das Jahr der Vorbereitung bot jedoch ausreichend Zeit, durch Nebenjobs die Reisekasse aufzubessern. 

Der Norden hatte mich schon immer fasziniert. Ich las die Edda und die Romane von Halldór Kiljan Laxness (1902-1998). Der spätere Nobelpreisträger (1955) empfing am 6. Januar 1923 im Kloster Saint-Maurice in Clervaux die katholische Taufe und Firmung. Pater Beda von Hessen OSB war sein Beichtvater. Das Benediktinerkloster hatte gemäß der Anordnung Pius X. die Aufgabe, für die Rückkehr der Skandinavier zu beten. Laxness’ berühmter Roman „Islandsglocke“ (1943-1946) ist auch eine Kirchengeschichte Islands, das sich im Jahr 1000 freiwillig zum Katholizismus bekehrt hatte. Vor der Landnahme durch norwegische Siedler hatten auf Island bereits irische Einsiedler gelebt. Sie gehören zur ungeschriebenen christlichen Vorgeschichte der Insel.

Auf Thingvellir, dem heiligen Versammlungsplatz der Nordmänner und -frauen, hatte der Rechtsgelehrte Thorgeir Thorkelsson einen Tag und eine Nacht unter einer Pelzdecke meditiert und dann einen weisen Entschluss gefasst: Um die Einheit zu wahren, sollten alle Isländer katholisch werden! Gesagt, getan. Thing ist Thing. In Skálholt entstand 1057 der erste Bischofssitz. Benediktiner gründeten Männer- und Frauenklöster. Ihnen folgten Augustiner. Mit der Reformation wurde das Luthertum Staatsreligion in Skandinavien. Der dänische König Christian III. ließ den widerständigen isländischen Bischof Jón Arason in Skáholt hinrichten. Der Roman „Islandglocke“ erzählt von einem Traditionsverlust und dem großen Vergessen, das inzwischen auch die gesamte deutsche Schullandschaft ergriffen hat. Der Held Arnas Arnaeus macht sich auf die Suche nach alten Handschriften. Die beschriebenen Pergamente wurden aus den Büchern gerissen und zur Isolierung der Häuser missbraucht. Arnas Arnaeus sah in der Sammlung und Sicherung der beinahe vergessenen Tradition seine Berufung. Ich teilte sie unmittelbar und fand es allemal pädagogisch wertvoll, diese Leidenschaft für die großen Bücher der Vergangenheit an die Jugend weiterzugeben. Wer weiß, vielleicht waren wir die letzten Lernenden, die noch einmal den Kreis christlicher und humanistischer Bildung durchschritten, bevor die Bildungsreformer große Teile dieses Biotopes in Brachland verwandelten. Wenige Jahre vor unserer Reise hatte Johannes Paul II. die katholischen Bistümer des Nordens besucht. Auf Thingvellir hielt er am 3. Juni 1989 eine Ansprache, predigte in der Bischofskirche von Reykavik und empfing Halldor Laxness in einer Privataudienz.

Unser Flug ging von Düsseldorf nach Keflavik. Der Flughafen im Osten der Insel liegt in der Nähe von Thingvellir und der Blauen Lagune (Bláa Lónið), dem Thermalfreibad bei Grindavík. Der Salzwassersee mit der blau-weißen Farbe gehört zu einem Geothermalkraftwerk. Aus 2000 Meter Tiefe pumpt es heißes Wasser an die Oberfläche. Im Thermalbad hat das Heilwasser dann Badenwannentemperatur. Seine Zusammensetzung aus Kieselsäure, Natrium, Kalium und vielen weiteren Bestandteilen hat mich weniger interessiert, wohl aber die Frage, wie ich in Badehose neben den Schülern aussehen würde. Auch die 200 Algenarten im Seewasser waren mir unwichtig. Die Isländer leben nicht nur auf einem Vulkan, sondern einen weit verzweigten seismischen Feld. So ist der Badeaufenthalt in der Blauen Lagune auch eine Einübung in jene Gelassenheit, mit der die Nordländer die Meere befuhren und unbekannte Länder erforschen. Ein Denkmal des größten Seefahrers Leif Eriksson steht deshalb vor der Hallgrimskirche in Reykavik. Sein Mut hatte mich in früher Jugend berührt, und ich las Bücher über die Fahrten der Wikinger. 

Die Nordlandreise ist eine Einübung in Resilienz oder besser den Umgang mit dem Unerwarteten. Alle Schönheit der Natur und alle Harmonie menschlicher Verhältnisse  kann sich plötzlich ins Gegenteil verkehren. Standhaftigkeit und Treue, Glaubensfestigkeit und Frustrationstoleranz entwickeln sich erst in den Stürmen des Lebens. Die Erde wird nie zur Ruhe kommen. Doch steht unerschütterlich die Botschaft vom Frieden auf Erden. Diesen Widerspruch gilt es aushalten zu lernen, und allein deshalb ist die Reise nach Island eine grundlegende Erfahrung. 

Im August 2003 blieb die Blaue Lagune ruhig. 20 Jahre später wurde sie nach mehreren Erdbeben geschlossen. Im Jahr 2024 erfolgten Schließungen und Eröffnungen im regen Wechsel. Die Blaue Lagune ist nicht nur ein Ort der Heilung für verschiedene Hautkrankheiten, sondern ein Therapieort für Menschen mit der Neigung zu Panikattacken. Wo, wenn nicht hier, kann man lernen, mit dem Unverfügbaren umzugehen?

Vatnajökull heißt der größte Gletscher auf Island. 1000 Meter dickes Eis, 100 Kilometer in der Ausdehnung von Nord nach Süd, 150 km von West nach Ost. Wir haben unser Zeltlager in Skaftafell aufgebaut. Gebadet wird in den warmen Flüssen und Seen. Ein eiskalter Hauch entströmt der großen Öffnung der Gletscherzunge. Der Bachlauf ist voll dicker Kieselsteine. Einige sind wie von einem Messer sauber durchgetrennt. Das Eis hat sie zu voller Schönheit gebrochen. Unter dem Gletscher liegen einige der aktivsten Vulkane der Insel. Die Welt des Nordens entsteht aus Feuer und Eis. Die alten Mythen der Edda können noch heute von den Isländern gelesen werden. In allem Wandel der Zeit hat sich die Sprache bewahrt. Identität braucht auch eine Abgrenzung gegenüber dem Fremden. Ein Islandpferd, das etwa zur Zucht die Insel verlassen hat, darf nie wieder heimkehren. Auch für seine Nachkommen bleibt der Weg versperrt.

Isländer haben einen sehr langen Atem und ein noch längeres Traditionsbewusstsein. Der Bauer, der uns über den Vogelfelsen vom Kap Ingólfshöfði führen wird, leitet seine Familiengeschichte in gerader Linie auf Ingólfur Arnarson zurück, der vor über 1000 Jahren auf das damals noch bewaldete Island kam. Ebenso lange wohnt seine Familie auf dem Hof Hofsnes. Mit ihm hatten wir ein unerwartetes Initiationserlebnis. Einar Rúnar Sigurðsson sollte uns zum Vogelfelsen führen, aber seine Frau Matthildur Unnur Thorsteinsdóttir hatte in den frühen Morgenstunden einen Sohn zur Welt gebracht. So übernahm sein Vater, Sigurður Bjarnason, diese Aufgabe. Er hatte vor Jahren die Schafzucht aufgegeben und sich auf Touristenführungen spezialisiert. 

Mit dem Linienbus fahren wir zu den feuchten Marschwiesen, wo der Altbauer bereits auf uns wartet. Wir besteigen den offenen Anhänger und fahren zum Plateau der grasbewachsenen Steilküste. Bauer Bjarnason plaudert ohne Punkt und Komma - auf Isländisch. Unsere fleißigen Schüler beherrschen einige europäische Kontaktsprachen, deren Erwerb sich hier auf dem Felsen der Vögel als wenig brauchbar erweist. Unser Nordmann plaudert weiter. Er zeigt auf einen jungen Vogel auf dem Boden. Ist er verletzt? Ist er tot? Er zeigt auf wilde Raubmöven (Skuas) über den Klippen. Sie haben spitze Schnäbel. So stellt sich der Zusammenhang wie von selbst her. Der Jungvogel ist von Skuas getötet worden! Besonders die Schülerinnen reagieren mit Betroffenheit. Gerade wollen sie den Blick wenden, da flattert der Vogel mit den Flügeln und erhebt sich munter in die Lüfte. Die Führung erweist sich als Grenzfall der Kommunikation. Sie gilt es auszuhalten. Ataraxia nannten die alten Griechen die Tugend der Seelenruhe. In den kommenden Stürmen des Lebens ist sie wichtiger denn je. Diese Lehre war die Reise wert.

 

Taizé 2001

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Uwe Wolff
Wolff auf Reisen
10. Mai 2021
Zugriffe: 5766

 

Die Brüder der Gemeinschaft von Taizé sahen es nicht gerne, dass wir mit unseren Schülern die Teilhabe an ihrem Gebetsleben suchten. Ich fühlte mich als Leiter eines Lehrerseminars im Bistum Hildesheim noch recht jugendlich und liebte die engelgleichen Gesänge von Taizé. In vielfacher Wiederholung, manchmal einstimmig oder vielstimmig, singen sie von Engeln und Dämonen, von Licht und Schatten, Zuversicht und Anfechtung und von einer tiefen Sehnsucht nach Erlösung. Ihr Blick richtet sich auf den kommenden Christus. Jugendlich gestimmt bleibt das Leben bis zu seiner Verklärung am Jüngsten Tag.

„Christus, dein Licht verklärt unsere Schatten,
lasse nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht.“

Die Skepsis der Brüder leuchtete mir ein. Eine Reise nach Taizé dient nicht der Bespaßung von Schülern. Mein Freund und Kollege hatte als Französischlehrer die Organisation der Fahrt übernommen. Sie fand im Herbst 2001 statt. Wäre sie heute mit dem sehr hohen Anteil muslimischer Schüler noch durchführbar? Wir alle hatten damals ungläubig und erschüttert auf die Endlosschleife der Bilder von Ground Zero geschaut. Mit diabolischer Logik hatten Islamisten ihre Flugzeuge in die Twin Towers gesteuert. Wir hatten das mysterium iniquitatis (2. Thes 2,7) erlebt. Woher dieser Hass? Vor dem radikal Bösen verstummen alle Versuche der Erklärung. 

In Stille und Schweigen erreichten wir Taizé. Ein Bruder im weißen Habit begrüsste uns unterkühlt an diesem neblig feuchten Septembertag und wies uns die Zimmer zu. Taizé ist kein synodaler Weg, sondern geistliche Hierarchie. Ohne sie gibt es keine Vervollkommnung. Wir wurden über den Tagesrhythmus, die Gebets- und Essenszeiten informiert. Im späten Nachmittag trafen wir uns zum ersten Mal mit den anderen Pilgergruppen in der Kirche. Vorne sahen wir eine Mauer aus Ziegelsteinen, dazwischen platziert Teelichter. Stühle gab es nicht. Entweder saßen wir auf dem Boden oder benutzten ein kleines Holzbänkchen. Lang war die Fahrt gewesen und anstrengend. Einige strecken sich daher auf dem Boden aus. Im Kloster herrscht Disziplin. Wo das Heilige sichtbar werden will, da lauern auch die Dämonen. „Wachet und betet!“, heisst es in einem Lied. Es zitiert eine Aufforderung Jesu in der Stunde seiner Todesangst: „Bleibt hier und wachtet mit mit, wachet und betet!“ Die Jünger aber schliefen in der Nacht von Gethsemane vor Erschöpfung und Traurigkeit. Die Gottesdiensthelfer von Taizé bewegen sich lautlos wie Zen-Meister durch die Kirche. Ihr Befehl duldet keinen Widerspruch. Sehr bestimmt fordern sie die Müden auf, sich vom Schlaf des Glaubens zu erheben und die Sitzhaltung der Erwartung einzunehmen. Der Blick richtet sich nach vorne, dort wo die Lichter brennen und bald die ersten Gesänge angestimmt werden.

„Im Dunkel unsrer Nacht,
entzünde das Feuer,
das nie mehr erlischt,
das niemals mehr erlischt.“

Ein Kloster ist kein kulinarischer Ort. Da ich von früher Kindheit an gewohnt bin, schweigend und ohne Kommentar zu essen, was auf den Tisch kommt, habe ich keine Erinnerung an die gemeinsamen Mahlzeiten. Sie genügten. Der nächste Kaufladen liegt weit entfernt und ohnehin hatte der Gastbruder das Verlassen des Geländes ausdrücklich verboten. Er sprach nicht von der stabilitas loci, ohne die es keine wirkliche Konzentration des Geistes auf das Wesentliche geben kann, sondern von den Dorfbewohnern, die nicht durch einen Massenandrang von Apostaten der Stille belästigt werden sollten. Die Schüler hielten sich an diese Vorgabe. Ohnehin waren die Rucksäcke mit einem Notvorrat an Essbaren prall gefüllt. Meinem Kollegen und mir blieb zwischen den Gebetszeiten viel Zeit für unser theologisches Gespräch über Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr, denn die Schüler wurden in Gesprächsgruppen betreut. 

Taizé liegt in einsamer Landschaft. Doch mit dem Bus kann man in 18 Minuten Cluny erreichen. Von hier aus erneuerte die cluniazensische Reform den lasch gewordenen Glauben in ganz Europa und zeigte sich wehrbereit gegenüber den muslimischen Kriegern. Die Abtei von Cluny wurde durch französische Gottesleugner im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit 1798 enteignet und dem Abbruch freigegeben.  Der Dämon der Zerstörung hat viel Gesichter. Als wir nach dem Besuch heimkehrten, erwartete uns schon der Gastbruder mit einer Ermahnung. Unsere Büßerstimmung hielt uns nicht davon ab, nach dem Abendessen ein Glas Rotwein aus kleinem Glas (0,1 L) zu bestellen. Hinter der Eßhalle wurde jeden Abend bis 21.00 Uhr eine Verkaufsbude eröffnet. Gośka und Swetlana schenken uns sogar noch ein zweites Glas ein. Was wäre die Ökumene ohne den Osten! Vollkommen versöhnt waren wir, als Gośka uns in deutscher Sprache zusprach: „Zum Wohle, zum Wohle, der Papst ist ein Pole!“

Am Freitagabend sahen wir die Kirche in anderem Licht. Wir hatten inzwischen die angemessene Sitzhaltung gelernt. Die Helfer der Brüder hatten ein großes Kreuz aus Teelichtern auf dem Boden gelegt. Nach einer Zeit des Gesanges bewegten sich einige Teilnehmer auf das Kreuz zu und verneigten sich. Das war ein Bußakt. Dann kam eine neue Bewegung in den Raum. Wir saßen wie immer ganz hinten, damit wir aus leicht erhöhtem Platz den Raum überblicken konnten. In der Tiefe des Raumes  hockte ein Mensch in weißem Habit auf dem Boden. Jugendliche aus den vorderen Reihen erhoben sich von ihren Hockern und robbten auf Knien zu dem Alten. So entstand eine lange Warteschlange. Ich schaute auf unsere Schüler. Einige waren richtige Rabauken. Zu ihnen gehörte Marcel, der auch in Taizé seine langen Haare mit Gel zugekleistert und zu einem Hahnenkamm geformt hatte. In Calderons berühmten geistlichen Spiel „Das große Welttheater“ erklingt am Ende das Tantum ergo. Vor dem Allerheiligsten  beugen alle die Knie, selbst die Mächte der Unterwelt: 

„Da des Himmels Engelscharen,
In der Hölle die Dämonen
Und die Menschen auf der Welt
All sich beugen vor dem Brote“.

In der Ökumene von Taizé wird keine eucharistische Anbetung praktiziert. Aber selbst Marcel ging auf die Knie und kroch über den Boden zu dem alten Mann. Ich war inzwischen aufgestanden und hatte mich leise am Rand der Kirche in Richtung jener Säule geschlichen, an die sich der Alte gelehnt hatte. Ja, es war Frère Roger, von dem sich die jungen Menschen segnen ließen. Er legte ihnen seine Hände auf den Kopf. Nun war mein Schüler an der Reihe. Der Gründer der Gemeinschaft wird doch nicht seine zarten Hände in diesen Irokesen-Haarschnitt betten! So durchfuhr es mich. Doch der heilige Mann kannte keine Berührungsängste und segnete den Jungen.

Das Bild von diesem Segen begleitete mich. Niemand kennt die geheime Wirkung eines Segens. Wenn ich mit meinem Freund und Seelsorger Pater Franz OFM durch jene bayerischen Landschaften fuhr, in denen er Mission betrieben hatte, so segnete er vom Steuer des alten Wagens aus die kleinen Städte und Ortschaften, an denen wir vorbeifuhren. Segen wirkt auch dann, wenn der Gesegnete nichts von der Segnung weiß. Wir leben in einer Zeitenwende. Die mit dem Zeichnen Tau Gesegneten werden den Untergang überleben. Wohl deshalb tragen die Brüder das endzeitliche franziskanische Symbol.

Es gibt viele Möglichkeiten, Impulse aus Taizé in den Schulalltag zu integrieren, besonders, wo es noch die Tradition der Andachten gibt. Taizé-Lieder haben längst Eingang in das Gotteslob gefunden. Bei aller Freude am Gesang machen sie der Gemeinde auch bewusst, dass die Messe in der niedersächsischen Diaspora keine Taizé-Stimmung erzeugen kann. Dafür tadelt niemand im Norden den fröhlichen Schluck Bier oder das Glas Wein im Gemeindehaus nach dem Besuch der Messe. 

Segen wirkt meistens dort, wo wir ihn nicht erwarten. Das Abitur kam und mit ihm der Gottesdienst, für dessen Gestaltung ich zuständig war. Die Schulkirche ist dem Erzengel Michael geweiht. Bernward von Hildesheim hat sie in der ersten Jahrtausendwende errichtet. Damals kamen die kleinen Bronzeengel in Gebrauch, Handschmeichler für alle Fälle und Lebensbegleiter weit über den Tag der Verleihung der Reifezeugnisse hinaus. Ich hatte das Bedürfnis, meinen Schülern diesen Engel mit auf den Weg zu geben. Der Pfarrer sollte die Abiturientia in kleinen Gruppen im Altarraum segnen und jedem einzelnen einen Engel mit auf den Weg geben. Mit der Einführung von Ritualen zumal unter Lutheranern kann man schweren Schiffbruch erleiden. Wir waren uns des Risikos der Ablehnung bewusst. Ein Abi-Gottesdienst ist weder Kirchen- noch Katholikentag, wo andere Formen der Liturgie gerne erprobt werden. Die Geschichten, die unsere Schüler Jahre später von der Fahrt nach Taizé und der Segnung in der Michaeliskirche erzählten, bezeugen die Wirkung segnenden Handelns. Man muss es einfach tun und darf wie Frère Roger keine Angst vor vielleicht unangenehmen Berührungen und Folgen haben. 

„Auf dich vertraue ich und fürchte mich nicht“: Beim Abendgebet in der Versöhnungskirche bewegte sich vier Jahre nach unserer Reise eine junge Frau aus Rumänien auf den Greis zu und erstach ihn. Frère Roger war sofort tot. Die 2500 Anwesenden hielten kurz inne. Dann sangen sie weiter. Über aller Zerstörung gibt es eine unzerstörbare Ökumene der glaubenden Herzen. Der Gesang der Engel verstummt niemals. Auch das hatte ich auf dieser Reise erfahren.  

La Verna 1998

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Uwe Wolff
Wolff auf Reisen
10. Mai 2021
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„sueños hay, que verdad son -
Träume gibt’s, die Wahrheit sind“

Don Petro Calderon de la Barca

 

 
Pater Franz OFM war mein Berater in allen Fragen über Engel. Ich lernte den Seelsorger bei einem Besuch des Klosters Engelberg oberhalb des Mains kennen. Damals arbeitete ich an einem Buch über Anneliese Michel. Gemeinsam besuchten wir im Laufe der kommenden Jahre verschiedene Franziskanerklöster. Als wir uns in einem Prager Wirtshaus ein Bier gönnten, suchte ein Ehepaar die Nähe des Paters. Ihre Tochter hatte ein Prädikatsexamen abgelegt und sollte nun die sehr erfolgreiche Kanzlei ihres Vaters im Lehel übernehmen. Aber der rechte Mann fürs Leben war noch nicht gefunden. Die Mutter klagte ihr Leid. „Gnädige Frau,“ sagte Pater Franz, „haben sie schon einmal versucht, zum zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter zu beten?“ Die Frau blickte skeptisch auf den Mann Gottes. „Ja, wie sollen sich die für einander bestimmten Menschen unter den vielen Millionen finden, wenn die Schutzengel nicht Hilfe leisten!“ Das leuchtete ein. Man tauschte die Adressen. Nach einem Jahr kam die Nachricht einer glücklichen Ehestiftung.
 
Jahre später wohnte Pater Franz im Kloster St. Anna. So begann unsere nächste Reise in München. Pater Rodrigo, der in Portiunkula Pilger betreut, hatte uns eingeladen, im Konvent der Brüder in Santa Maria degli Angeli zu wohnen. Es war abgemacht, dass wir als Pilger nach Assisi fahren sollten. Franz fragte mich nach einem Gebetsanliegen. Das hatte ich. Der Vater war schwer erkrankt. Am Morgen nach unserer Ankunft führte uns Pater Rodrigo durch die Basilika. Er plauderte in sechs Sprachen mit Pilgern aus Südamerika, Frankreich, Australien, Japan, Holland, Deutschland, hatte für jeden Besucher einen fröhlichen Gruß parat und segnete junge Mütter mit ihren Kindern. 

Im Klostergarten finde ich dicke Pinienzapfen und nehme einen in die Heimat mit. Vielleicht wird aus den Samen ein Baum in meinem Garten wachsen. Nach dem Aufheben des Pinienzapfens fällt mein Blick auf den Bergesrücken. Auf ihm liegt Assisi. Der Heilige hat viele Orte in Umbrien bereist, doch das Zentrum seiner Bewegung errichtete er direkt unterhalb seiner Vaterstadt, so dass es sein Vater jederzeit vor Augen hatten. Was mochte Pietro die Bernardone gedacht haben, als er auf das Werk seines Sohnes blickte? Hatte er die Renovierungsarbeiten an der Kirche als Provokation verstanden? War er noch wütend auf sein Kind, das sich vor aller Öffentlichkeit von ihm losgesagt hatte? Franz hatte den inneren Reichtum in seiner Seele entdeckt und sich ohne Rücksicht auf die Gefühle des Vaters durchgesetzt. Wer hat je die schlaflosen Nächte Pietro die Bernardones beschrieben? Wer kennt die Verzweiflung, die Selbstvorwürfe, die Trauer, Wut, Empörung und den Zorn in seiner Seele? Wer spricht von den Konflikten zwischen den Eltern und Geschwistern daheim, als der Älteste als verlorener Sohn in dieser provokanten Weise das Vaterhaus für immer verlassen hatte?

Über seiner Grabstätte wölbt sich die zweischiffige Basilika von San Francesco. Den oberen Teil mit dem Zyklus von Szenen aus dem Leben des Heiligen können wir nicht betreten, weil die Erdbebenschäden vom 26. September 1997 noch nicht behoben sind. Große Teile der Fresken sind von der Decke gestürzt. Pater Gerhard Ruf empfängt uns. Wir sitzen in seiner winzigen Zelle. Mein Blick schweift über die Bücherregale zur Decke. Tiefe Risse sind im Mauerwerk zu sehen. Einem Pilger ist in der Kirche die Tasche abhanden gekommen. Pater Ruf hat seine Personalien aufgenommen. Der Busfahrer mahnt zur Eile. Jetzt hat der Pilger seinen deutschen Personalausweis vergessen. Pater Ruf sendet ein e-mail an den Reiseveranstalter, anschließend drei Faxe an potentielle Spender für den Wiederaufbau der Basilika, telefoniert mit einem Professor für Kunstgeschichte, erläutert zwischendurch ein Promotionsvorhaben eines jungen Kunsthistorikers über einen Glasfensterzyklus der Kirche und ist dabei heiter. „Können Sie mir sagen, was Geduld ist?“, fragt er unvermittelt. Mit unseren Antworten ist er nicht zufrieden. Er führt uns zu einer großen Halle hinter der Kirche. Hier liegen in zahllosen Kisten und Schubladen Millionen winziger Bruchstücke aus den Giotto-Fresken. Wissenschaftler versuchen die Bilder aus dem Leben des heiligen Franz wieder zusammenzusetzen. 

Wie schafft man es, aus 50000 blauen Steinchen einen Himmel zu rekonstruieren? Ein Stein mit dem Bild eines Auges, eines Engelflügels, einer Haarlocke – damit läßt sich arbeiten. Wie stellt man jedoch den Faltenwurf eines Gewandes aus rostbrauner Farbe wieder her? Wahrscheinlich nur aus dem Geist jener Heiterkeit, die Pater Ruf verbreitet. Auf dem Rückweg zur Basilika berichtet er von der Nacht des Erdbebens und ihren Opfern. Erinnerungen an die Kriegszeit sind plötzlich da. „Was macht ihr, wenn die Gefahr kommt?“, fragt er. „Sofort weglaufen“, antworte ich. „Falsch, du mußt stehen bleiben. Löst sich denn die Muschel von der Buhne, wenn die große Welle kommt?!“

Wir fahren die kurvenreiche Strecke auf den La Verna, ein Berg, den Graf Orlando Catani am 8. Mai 1213 dem Heiligen schenkte, damit er hier in Ruhe beten konnte. Als sich dieser im Sommer des Jahres 1224 von Maria Himmelfahrt bis zum Fest des Erzengels Michael dort hin zurückzog, um zu Ehren des Erzengels Michael  zu fasten, erschien ihm am frühen Morgen des 14. Septembers ein sechsflügeliger Seraph aus dessen Mitte der gekreuzigte Christus hervortrat. Franz war Christus nachgefolgt. Auf dem La Verna vollendete sich seine geistliche Annäherung.

Der La Verna liegt im nasskalten Nebel. Wir frieren. Es ist fünfzehn Uhr, die Sterbestunde Jesu. Wie an jedem Tag öffnet sich um diese Zeit die Kirchentür und die Brüder begeben sich auf den Weg zu jener Stelle, wo der Seraph den Glaubensweg des Heiligen mit den Wundmalen Christi krönte. Der La Verna ist ein Ort der Buße und der geistlichen Annäherung an das Geheimnis der Passion. Dem entspricht die ernste, würdevolle Stimmung. Ich höre zum ersten Mal die lauretanische Litanei. Angelangt am Ort der Stigmatisierung, der Kapelle der Wundmale, verstummt der Gesang. „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige und in Ehrfurcht vor ihm beuge.“ Ich spüre: Schweigen ist die angemessene Haltung vor diesem Mysterium. Das Geheimnis dieses Ortes erhebt meine Seele und erschüttert sie zugleich. Ich muss gestehen: Als ich später allein in meiner winzigen, ungeheizten Zelle sitze, ergreifen mich Fluchtgedanken! Ich ziehe mir den Mantel an, lege mir eine Decke um die Schulter. Alles vergeblich. Das Frösteln kommt von innen. Vor meinen inneren Augen wandelt die lange Galerie von Märtyrerportraits, die vor meiner Zelle im Flur hängen: Die Bilder halten detailliert die grauenhaften Todesarten fest. Wie weit würde ich mit Christus gehen, wenn mein Bekenntnis auf die Probe gestellt würde? Würde ich flüchten, um mein Leben zu retten oder standhalten? Ja oder nein! Entweder - oder! Die Wahrheit fordert eine Entscheidung. Vor ihr gibt es keine Neutralität. Deshalb versetzte Dante die neutralen Engel in die Hölle.

Irgendwann klopft Franz an die Zellentür. Wir gehen zum Abendgebet (Vesper). Anschließend verharren wir eine Stunde lang in der Stille vor dem ausgesetzten Allerheiligsten. Christus ist gegenwärtig. Geheimnis des Glaubens: Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir... Ich schaue ihn nicht an. Mein Auge sucht Farbiges, das die warmen Blautöne der Keramiken von Andrea Della Robbia mir schenken. Auf einer begleiten liebliche Engelsgestalten die Muttergottes bei ihrer Himmelfahrt, auf der anderen Keramik schweben sie voller Mitleid weinend unter dem Gekreuzigten. Erhöhung und Erniedrigung, Freude und Leid, Tod und Auferstehung – das Geheimnis unseres Lebens findet seinen Ausdruck im Symbol des Kreuzes. Als ich jetzt mit innerer Ruhe auf die Hostie blicke, erscheint in ihr das Kreuz. Meine Gedanken sind bei dem Vater. 

Am nächsten Morgen betreten wir die feuchte Höhle, „das Bett des heiligen Franziskus“ genannt, weil der Heilige an dieser Stelle auf nacktem Felsen ruhte, wenn er Zuflucht vor den Stürmen des Winters suchte. Ein Eisenrost schützt den Felsen vor Reliquienjägern, die Steine aus ihm schlagen. In einer tieferen Stelle der Höhle liegt Sand. Ich tüte eine kleine Probe ein, um sie dem Vater daheim ans Bett zu bringen.

Den Sand vom Ruheplatz des Heiligen habe ich dem Vater gebracht. In seiner Sammlung von Sanden aus allen Teilen der Welt nimmt er einen Ehrenplatz ein. Die Chemotherapie hat der Ausbreitung der Krankheit Einhalt geboten, sagt er. Ich berichte von der Fahrt nach Assisi. An Gott glaube er nicht, meint er, ermuntert mich aber, weiterhin Kerzen für ihn anzuzünden und zu beten. Jeder Mensch birgt in sich ein Geheimnis. Er selbst kann es nicht ergründen. Wie sollten wir es dann verstehen? Einer kenne das Geheimnis unseres Lebens und halte es in seinen Händen, glaubte Franz. Er schicke den Schmerz und zugleich die Kraft, ihn in eine Perle zu verwandeln.

 

 

 

 

 

 

Afghanisches Grenzland 1996

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Uwe Wolff
Wolff auf Reisen
30. April 2021
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Von Frankfurt ging der Flug nach Bahrain. Hier kamen pakistanische Wanderarbeiter an Bord. Der nächste Zwischenstopp war die Millionenstadt Karatschi. Dann führte die Reise vom Rand des Indischen Ozeans nach Peshawar. Die Stadt am Khyber-Paß liegt unter einer dichten Staubglocke. Doch nicht aus Gründen der Umweltverschmutzung gilt sie als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Deshalb wurde mir ein afghanischer Leibwächter zur Seite gestellt. Seine Gegenwart erwies sich gleich beim ersten Besuch des Sadar Bazar als segensreich. Ein bewaffneter Mann trat mir in den Weg und fragte mich, ob ich an Gott glaube. Gewiss! Ob ich auch glaube, dass Mohammad sein Prophet sei. Rasch hatte sich eine Menschenmenge um uns gebildet. Mein Begleiter übersetzte meine Antwort. Dann führte er mich rasch weiter. 

Christen gelten in Pakistan als Ungläubige (Kāfir). Frauen werden entführt, missbraucht und zur Konversion gezwungen. Schändungen von Gotteshäusern und Friedhöfen kommen häufig vor. Um Provokationen zu vermeiden, steht auf den meisten Kirchen kein Kreuz. Die katholische St. Michael’s Church am Sadar Bazar ist sogar zur Tarnung im Stil einer Moschee gebaut. 2013 zündeten zwei Selbstmordattentäter Bomben in der Allerheiligenkirche von Peshawar an der Kohati Gate. 87 Katholiken wurden getötet, 145 verletzt. Pastor William Silray wurde im Januar 2022 in Peshawar erschossen. Meine Reise fand im Herbst des Jahres 1996 statt. Nach der russischen Arktis sollte ich ein Land kennenlernen, in dem der Islam Staatsreligion ist.

Vor den Toren Peshawars liegt das afghanische Stammesgebiet (Tribal Areas) der Pathanen. In Paschtu haben Dichter wie Khushhal Khan Khatak, der Kriegerpoet der Pathanen, den geistigen und militärischen Widerstand gegen die Mogulherrscher formuliert, und noch heute lebt hier der Traum vom Land Paschtunistan, in dem der Nordwesten Pakistans mit dem Osten Afghanistans vereint ist.

Hamid ist Pathane, Leiter einer Privatschule und stolzer Besitzer eines 26 Jahre alten VW-Käfers. Vierspurig brandet der Verkehr durch die Stadt. Zwischen überladenen Bussen und buntbemalten Motorrikshas trotten Eselskarren und Wasserbüffelgespanne. Man ruft sich zu, schreit, schimpft, lacht und flucht. Die linke Hand am Steuer, die rechte auf der Hupe. Die schwarzweiß gemusterten Halstücher der Männer, in der Mittagsglut zum Abtupfen des Schweißes benutzt, dienen jetzt in der Abenddämmerung als Atemschutz. Der Polizist am Straßenrand trägt eine Maske. Durch die verschmutzten Scheiben des Wagens ist nur wenig zu sehen. Hamid reißt das Steuer nach links, um einem Kameltreiber und seinen Tieren auszuweichen. Die Sonne ist untergegangen. Trotzdem fahren die meisten Fahrzeuge ohne Licht oder haben wenigstens die Rückleuchten ausgeschaltet. Man glaubt auf diese Weise die Energie der Autobatterie zu schonen. Ja, das sei sehr gefährlich, kommentiert Hamid. Jeden Moment könne ein Unfall passieren -  Inschallah. Wenn Gott will, sagte auch der Pilot beim Anflug auf Peshawar, werde das Flugzeug sicher landen. Bodenwellen sollen den schnellen Verkehr bremsen. Doch niemand drosselt das Tempo. Wenn der Wagen über sie springt, lacht Hamid: „German car is good for jumping!“ Und er zeigt stolz auf die Mitte des Lenkrades mit den Symbolen „Wolf“ und  „Burg“. Autos, die in Deutschland aus ökologischen Gründen „entsorgt“ wurden, fahren hier noch über Jahrzehnte.

Zwei Engel wolle er mir vorstellen, hatte Hamid gesagt. An der großen Straße Nummer 5 nach Jalalabad (Afghanistan) rasten Truckfahrer. Das Restaurant besteht aus einem großen offenen Raum ohne Mobiliar. Mit dem Verzehr einer Mahlzeit erwirbt sich der Gast das Recht der Übernachtung auf einer der nackten Holzpritschen. Fünfzig Fernfahrer liegen nebeneinander ausgestreckt und richten ihre Blicke auf einen Fernsehapparat. Es läuft ein Bollywood-Film mit unverschleierten Frauen - „dirty pictures“. Geschminkte Frauen ohne Burka gelten als Huren. Gekocht wird vor dem Restaurant. Aus einem Topf schöpft der Wirt Reis und füllt ihn in eine Plastiktüte. Scharfgewürztes Fleisch gibt er auf ein Schälchen. Der Bäcker holt aus dem Feuerloch im Boden sechs runde Fladenbrote. Sie ersetzen als Eßhilfe den Gebrauch von Messer und Gabel. 

Straße und Basar gehören zur Welt des Mannes. Hier geschieht alles öffentlich: die Bezeugung des Glaubens wie die Geschäfte des Geldwechslers, das Ausweiden der Schlachttiere und das Mahlen der Gewürze. Alles wird recycelt: Der Dentist kramt in alten Gebissen und sucht einen passenden Zahnersatz, der Messerverkäufer demonstriert an einem Eisenpfahl die Schärfe der Schneide aus russischem Raketenstahl. Am Straßenrand arbeitet der Friseur, und der Schuster flickt einen Koffer. Aus der Presse fließt der Saft des Zuckerrohrs, während nebenan ein Motor zerlegt wird. Hinter dem Schleier und der Haustür verborgen liegt die Welt der Frau. Hier legt sie den Ganzschleier der Burka ab. Wer es sich leisten kann, setzt auf sein Haus, wie zu Bathsebas Zeiten, eine Dachterrasse mit hohen Mauern, damit Frauen und Töchter im Freien wandeln können. Auch wir sind im inneren Bezirk angekommen. „Meine Engel!“ Dass die beiden Lehrerinnen einem Orden angehören, ist ihnen äußerlich nicht anzusehen. Durch päpstlichen Dispens ist es ihnen erlaubt, das Ordensgewand abzulegen. Eine überlebenswichtige Vorsorge. Draußen tragen sie den landesüblichen Schleier.

Hamid verteilt das Essen und schenkt Cola ein. Noch in den letzten Dörfern des Karakorum und des Hindukusch steht neben der Moschee eine Werbung für Pepsi-Cola. In Pakistan herrscht striktes Alkoholverbot. Weder in den Duty-Free Läden der Flughäfen noch in den Bars der großen Hotels ist er offiziell erhältlich. Doch hinter dem Schleier sind nicht nur Frauen verborgen. Plötzlich steht eine Flasche Whiskey auf dem Tisch. Auch Hamids Engel nippen am Glas. 

Den Genuss von Alkohol habe Muhammed (570-632) untersagt, so heißt es, nicht aber das Rauchen von Drogen. Die Sufis beim Schrein des Chishti-Mystikers Abdul Rahman (1651-1709) begrüßen uns. Es ist Donnerstagnacht. Bald beginnt Juma, der islamische Feiertag. Grund, durch Tanz und Musik Gott zu preisen. Der Mullah pocht auf den arabischen Urtext des Koran, der Mystiker aber sieht das Geheimnis Gottes auch in der Mitte der Rosenblüte und im aufsteigenden Duft des cardamomgewürzten Tees. 

Abdul Rahman, den die Pathanen Baba (Vater) nennen, sang von Gottes Allmacht: „Vor ihm wirft sich die Erde betend nieder, der Himmel beugt sich im Gebet vor ihm“, übersetzt Annemarie Schimmel. „In seinem Lobpreis sind beständig alle, ob’s Engel sind, ob Geister, ob der Mensch. Sein Lob verkündet jeder Fisch im Wasser, im Hain singt jeder Vogel seinen Preis.“ Rahman Baba gehören diese Nacht und der kommende Tag. Sein Schrein liegt inmitten eines riesigen Gräberfeldes. Die Straße zum Heiligtum führt durch eine Region, in der Mörder, entflohene Häftlinge und Diebesgesindel ihr Unwesen treiben sollen. Jederzeit könnten sie uns auf den unbeleuchteten Straßen überfallen, kommentiert Hamid. Inschallah. Doch Gott ist heute gnädig. Wir aber passieren in dieser Nacht alle Straßensperren. 

Auf überdachtem Platz in der Mitte eines Gartens sitzt der alte Sänger. Er hält die Augen geschlossen, denn die zweizeiligen Paschtoverse (landay) des litaneiartigen Gesanges (qawwali) stehen in seiner Seele geschrieben. Die königsblaue Farbe von Umhang und Turban kennzeichnen seinen Rang. Drei Musikanten begleiten ihn mit Schlaginstrumenten: einer Art Bongo und einer umgedrehten Waschschüssel. Im Sprechgesang rezitiert der Alte Rahman Babas Gottespoesie, seine Schüler wiederholen die Worte. So wurden durch Jahrtausende die großen religiösen Dichtungen der Menschheit tradiert, so memorieren Pakistans Kinder noch heute die arabischen Suren, ohne ihren Inhalt zu verstehen. Musik ist Magie. Unter den Schülern des Alten sehe ich Gesichter mit heller Hautfarbe. Die Verwandtschaft der Afghanen mit den Völkern Nordeuropas wird gerne betont. „Wir sind Arier wie die Deutschen“, erklärt ein Mann mit blauen Augen. Soll ich ihm Geschichtsunterricht geben?

Die Jungen begleiten nun den Meister mit rhythmischem Händeklatschen. Zuweilen blitzt der Griff eines Revolvers unter ihren Gewändern hervor. Pathanen sind Waffenliebhaber. In Bannu, Kohat und besonders in Darra Adam Khel baut der Büchsenmacher innerhalb einer Woche jedes gewünschte Objekt nach. Auf Holzpritschen in der Hütte nebenan ruhen die Alten. Auch hier in der Küche (langar), die nach altem Brauch jedem Gast offensteht, ist die Luft vom süßlichen Duft geschwängert. Tee kreist. Ich werde eingeladen, in den innersten Kreis zu treten, lege die rechte Hand auf die Brust und bekunde mit leicht angedeuteter Verbeugung meinen Dank.

 

  1. Russische Arktis 1996
  2. Chartres 1991
  3. Fatima 1990
  4. Borkum 1959