Wir sind auf dem Weg.

Werden wir dem genügen, was wir sind?

Wird sich in uns entfalten, was in uns angelegt worden ist?

Die Reifeprüfung liegt nicht am Ende der Jugendzeit.

Die Reifeprüfung ist das Leben. 

 

  

 

Die Hexe Zilly

 

Wir führten ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur. Wir, das sind Rüdiger und ich. Was wir erlebt, haben alle in ähnlicher Weise erfahren. Unsere Generation. Ich schreibe die Geschichte meiner Generation.

 

Rüdiger und ich stehen auf roten Sandsteinplatten. Der Vater hat sie mit der Maurerkelle auf Bausand verlegt. Das üppig sprießende Unkraut zwischen den Bruchsteinen hatte ich zu jäten. Am Wegesrand Rosen, die bald rot blühen werden. Über ihren Wurzeln ist Torf gehäufelt worden. Ein Winterschutz, bei dessen Verteilung ich geholfen habe. Mit meinen kleinen Händen konnte ich den Torf zwischen den dornenreichen Ästen verstreuen. Das kostete immer eine Verletzung. Blut wurde abgeleckt, denn Spucke ist ein gutes Pflaster. Daher weiß ich, dass mein Blut wie Rotbäckchen Saft nach Eisen schmeckt. Eisen lässt sich nicht leicht verbiegen. 

 

Wir sahen, wie Gärten und Wege angelegt wurden. Wir übten uns in vielen handwerklichen Tätigkeiten. Der Dorn stach, die umkippende Steinplatte klemmte den Finger ein, sodass der Nagel blau anlief. Kein Problem. Er würde irgendwann von selbst abfallen. Das Leben war ein Wunder.

 

Der Arm verletzt, das Bein vertreten, die Stirn blutig geschlagen und immer fröhlich dabei, weil der Freund an der Seite steht. Wir spürten das Leben im pulsierenden Finger, unter dem Schorf der Wunde, in der dicken Beule. 

 

Von Schätzen wussten wir nichts. Es gab kein Taschengeld, auch keine Belohnung für die tägliche Mitarbeit in Haus und Garten. Daher hatten wir auch nichts zu verstecken. Unsere Hosentaschen waren leer, und deshalb waren wir so fröhlich. Jeder sah es uns an der Nasenspitze an: Die kleinen Strolche hatten ein reines Gewissen.

 

Der Vater war glücklich, wenn er uns fröhliche Gesellen sah. Einen Freund hatte er immer vermisst. Aber das wusste ich damals noch nicht. „Die beiden Räuber“, nannte er uns gerne oder „Die Zigeuner“. Räuber haben wir nie gesehen. Bei uns gab es nichts zu rauben. Deshalb standen die Türen offen. Zigeuner kamen oft vorbei. Auch sie führten ein einfaches Leben und verbrachten wie wir den größten Teil des Tages im Freien. Als Scheren- und Messerschleifer boten sie ihre Dienste an. Ihre Arbeit verrichteten sie auf der Straße. Zigeuner und Räuber halten zusammen wie Pech und Schwefel. 

 

Der Umgang mit Hexen war dagegen schwierig, weil wir sie nie zu Gesicht bekamen. Am Rand der kleinen Siedlung stand ein halb verfallenes westfälisches Bauernhaus. Hier sollte die Zilly mit ihren vielen Kindern wohnen. Die Zilly hatte keinen Mann und ging keiner Arbeit nach. Nicht einmal einen Kräutergarten hatte sie  angelegt. Auf dem Hof streunte kein schwarzer Kater und kein Besen stand vor der Tür. Es war wie verhext.

 

 

 

Nie stieg aus dem Schornstein des Hauses Rauch auf. Vielleicht wohnte hier im alten Gemäuer die Witti. So nannte Oma Selma den kleinen Waldkauz, den sie handzahm gemacht hatte. 

 

Eulen sind nachtaktiv. Rüdiger und ich mussten unsere Spiele auf den Tag beschränken. In der Abenddämmerung berührten sich unsere Lebenskreise. Oma Selma öffnete ein Fenster und rief: 

 

 

„Witti - komm!“ 

 

Der Waldkauz antwortete: „Kuwitt!“ 

 

 

„Kuwitt" bedeute „Komm - mit!“ So hatte Oma Selma einmal den Ruf erklärt. Wohin uns die Witti führen wollte, sagte sie nicht. Vielleicht ins Haus der Zilly? 

 

Oma Selma kochte gerne Hühnersuppe. Ich habe nie verstanden, warum die Witti das beste Fleisch bekam und nicht Opa Franz. Das kleine Hühnerherz galt als Delikatesse. Ein Schauder durchfuhr mich, als ich es sah. Die Witti aber fraß es Oma Selma aus der Hand. Auch Rüdiger fütterte die Witti und konnte ihr sogar den Nacken unterm Federkleid kraulen.

 

Wir lungerten oft vor dem Haus der Zilly herum und versuchten durch die Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen. Der Ort hatte eine besondere Ausstrahlung. Sie war nicht gut und nicht böse. Wir hätten sie daher nicht beschreiben können. Aber wir spürten die Kraft, die von ihm ausging. Die Zilly war nicht da und genau deshalb ungeheuer anwesend. Zum ersten Mal kamen wir mit einem großen Gesetz des Lebens in Berührung. 

Eine Aura besaß auch die katholische Sankt-Ida-Kirche. Wenn wir durch die bunten Kirchenfenster schauten, sahen wir ein rotes Licht über einem Kästchen leuchten. Im Haus der Zilly stand ein Fernseher, der nie lief. In dem Kästchen wohne Gott, hatte Oma Selma gesagt, und in dem Hexenhaus die Zilly. So oft wir durch die Fenster schauten, wir konnten weder Gott noch die Zilly sehen. Aber es gab beide. Ganz gewiss. Vielleicht wohnten sie an ganz anderen Orten als in der Kirche und dem Hexenhaus. Die Welt war voller Geheimnisse. 

 

Jahrzehnte sind seit jenen Kindertagen vergangen, aber noch immer ist das Leben wunderbar im Ganzen. Alles, alles ist da - nichts geht verloren. Das gilt auch für unsere Witti. Die Witti und mit ihr alle deutschen Waldkauze wurden zum Vogel des Jahres 2017 erklärt. Nur zähmen ist nicht mehr erlaubt. Heute hätten Oma Selma und Rüdiger mit einer Anzeige wegen des Verstosses gegen das Artenschutzgesetz zu rechnen.

 

 

 

 

Lob des einfachen Lebens

 

Das Leben war einfach. Vielleicht war früher sogar einiges besser: Ein kurzes Strickhöschen reichte als Kleidung vom Frühjahr bis zu den Herbststürmen.

 

Blondes und braunes Haar, mehr gerupft als geschnitten von der Mutter oder dem Vater. Die Effilierscheren so alt und stumpf, dass jeder Schnitt ziepte. So erfuhren wir, dass Haare in der Kopfhaut verwurzelt sind. 

 

Ältere Geschwister zu haben, ist manchmal von Vorteil, wenn sie blaue Turnschuhe und eine schwarze Turnhose vererben. Diese Erbstücke waren immer eine oder zwei Nummern zu groß, sodass sie noch im nächsten Jahr Freude schenkten. 

 

Kinder des Wirtschaftswunders. Generation Babyboomer: In den Schlafzimmern der Eltern herrschte eine Willkommenskultur für Kinder. Rüdiger war ein Nachkömmling. Er trug die abgelegten Kleider seiner älteren Geschwister. Ein Flanellhemd des älteren Bruders, wollene Strümpfe, Hüftgürtel und Leibchen der Schwester. Darüber eine großzügig geschnittene schwarze Unterhose. Wem gehörte sie einst? 

 

Glückliche und sorglose Zeit! An Kleidung war nie ein Mangel, und alles konnte miteinander kombiniert werden! 

 

Ich war das Erstgeborene von vier Kindern, trug dennoch nicht die erste Wahl. Onkel Johannes und die Verwandtschaft aus Amerika schickten regelmässig Kleider. Sie waren aus Königsberg vertrieben worden und hatten nach dem Schrecken der Russenzeit Deutschland für immer verlassen. 

 

Es waren zwei Flüchtlingskinder, die hatten einander so lieb: Onkel Johannes war der Bruder unserer Mutter. Im November 1955 fuhr er auf dem ehemaligen Truppentransporter „General Langfitt“ von Bremen-Lesum nach New York. 13 Tage dauerte die Seefahrt. Im Gepäck hat er eine Kuckucksuhr. Das Abschiedsgeschenk seiner Kollegen von der Bremer Landesbank. Bei der Ausfahrt des Schiffes spielte die Kapelle: 

 

 

„Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus…“ 

 

 

Fünf Jahre später wurde Elvis Presley während seines Armeedienstes in Deutschland auf diesen Brauch aufmerksam und machte das alte deutsche Wanderlied zu seinem Plattenerfolg.

 

Das Aufwachsen in einer Recycling-Gesellschaft, das freie Leben auf der Straße und in den Wäldern hat unsere Kindheit geprägt. Niemand führte für uns einen Terminkalender und traf Verabredungen zum Spiel. Niemand griff ein, wenn wir uns kloppten. Niemand lobte unsere Kompetenzen beim Spiel. Das Leben war herrlich!

 

Es gab keine Container für Altglas, Papier, Schuhe oder Kleider. Flaschen und Weckgläser wurden ausgespült und wieder verwendet. Mit altem Papier wurde das Feuer im Koksoffen entfacht. 

 

Der Vater  besaß einen Dreifuß. Ihn brauchte er zur Besohlung alter Schuhe. Selbst die Knöpfe abgelegter Hemden wurden in einer alten Dose zur Wiederverwendung gesammelt. Welch ein farbenfroher Schatz! 

 

Geöffnete Konservendosen eigneten sich wunderbar zur Aufbewahrung von alten Schrauben und Muttern. Nägel wurden vom Vater aus der Wand oder dem Holz gezogen und mit dem Hammer wieder begradigt. 

 

In den Sechziger Jahren folgten mir drei Geschwister. Da war Rüdigers großer Bruder bereits in die weite Welt gezogen. Die Berliner Schering AG hatte die erste Antibabypille auf den deutschen Markt gebracht. Rüdigers Bruder vertrat dieses Produkt in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. 

 

 

 

Kasperletheater

 

Kein Kino, kein Fernsehen, kein Theater, keine Schallplatten. Nichts lenkte uns vom Gesang der Vögel, dem Wiehern der Pferde, dem Muhen der Kühe und dem Bellen der Hunde ab. Die Welt war Klang, und wir stimmten mit ein. Wir sangen die alten Volkslieder und pfiffen den Vögeln nach. Rüdiger war ein Meister im Pfeifen durch die Zähne. 

 

Kasperle wurde im Kindergarten gespielt. Später sahen wir die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste und lernten neue Lieder. Wir spielen auf der Terrasse. In Blickweite der Kindergarten St. Ida, den wir gemeinsam besuchten. 

 

So lange der Sommer währte, hatten Kinder im Haus nichts zu suchen. Unsere Spielräume waren die Straße, Wiesen und Wälder. Rüdigers Vater hatte ein großzügiges Wohnzimmer bauen lassen, wie nur Bauingenieure es können. Der Wohnraum mit Sitzecke und Blumenfenster wurde durch einen Kachelofen beheizt. Das Wohnzimmer ging in ein Esszimmer über, das durch einen Vorhang abgetrennt werden konnte. 

 

Einen Vorhang zu öffnen und zu schließen macht viel Freude. Auch mein Kasperletheater besaß einen Vorhang, der mit Rollen an einer Schiene befestigt worden war. Mein Vater hatte das Kasperletheater gebaut. Deshalb hielt der Vorgang noch in der größten Balgerei. Warum riss der Vorhang in Rüdigers Elternhaus aus der Schiene, als ich an ihm hochkletterte? Das ist mir heute noch ein Rätsel. Rüdigers Vater ließ meinen Vater kommen und die Sache instandsetzen. Darin fand wohl auch eine Rangordnung Ausdruck. Der Bauingenieur war älter, kräftiger und vermögender als mein Vater. Ein Herrscher. Aber einen Vorhang konnte er nicht richtig befestigen.

 

Krokodil, Polizist, Kasper, Gretel und ein König gehörten zu den Figuren, mit denen wir spielten. England, Spanien, Griechenland, Holland, Belgien, Norwegen, Dänemark, Schweden - die meisten Völker hatten einen König. Das hatte Oma Selma gesagt. Sie wusste auch, wie man als Kind von einem Kaiser spricht:

 

 

„Der Kaiser ist ein lieber Mann,

er wohnet in Berlin.

Und wär’ das nicht so weit von hier,

so ging’ ich heut’ noch hin.“

 

 

Oma Selma hatte Kaiser Wilhelm II. in ihrer Heimatstadt Breslau gesehen. Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Jetzt war der Kaiser schon lange tot, und Berlin nicht mehr die Hauptstadt Deutschlands. Oma Selma lebte noch nimmer und würde sehr lange leben. Munter überschritt sie die Jahrtausendwende und wurde 104 Jahre alt. So lebte sie in drei Jahrhunderten und zwei Jahrtausenden. Aber noch ist sie jung. Gerade einmal sechzig Jahre.

 

Einen deutschen König gab es nur noch im Kasperletheater. Ich wollte König sein. In meiner Rechten halte ich mein Wunschbild. Rüdiger setzt zum Angriff mit Gretel. So hieß seine Mutter. Sie malte gelegentlich nach einer Vorlage. Die Bilder hingen im Treppenaufgang: Dürers betende Hände, Berge des Sudetenlands und eine spanische Zigeunerin mit halb nackter Brust. Rüdigers Mutter war zuständig für Renovierungsarbeiten. Statt eine Raufasertapete zu kleben, strich sie die Wände mit weißer Farbe, unter die sie Sägespäne gemischt hatte. 

 

Ein Foto von uns Spielern: Rüdigers Gesicht zeigt konzentrierte Energie. Das Foto ist ein Standbild wie alle Aufnahmen aus jenen Jahren. Schnappschüsse waren unerwünscht, denn ihr Erfolg war ungewiss und kostete somit unnötiges Geld. Die digitale Aufnahmetechnik mit ihrer Bilderflut lag in sehr weiter Ferne. Damals wurde ein Foto gemacht. Eingeklebt in das Album und beschriftet lebt es noch heute.  

 

 

 

Im Rasen hinter dem Elternhaus steckten zwei Wäschestangen. Wenn man eine Stange in die Halterungen legte, konnten Teppiche geklopft werden. Ich hatte die eine Seite des Teppichs zu halten, während der Vater so kräftig zuschlug, dass ich meine Fingernägel und den Staub der vergangenen Monate deutlich spürte. Die Stange konnte tiefer gelegt werden und schon hatten wir ein kleines Freilichttheater. Opa Franz sah unser Spiel mit Freude. Er war Laiendarsteller und hatte Oma Selma in einer Breslauer Spielschar kennengelernt.

 

 

 

 

Katholiken haben zwei Geburtstage

 

Der Zahnwechsel hat noch nicht begonnen. Ein sicheres Zeichen, dass die Schule noch fern liegt. Wir sind im Kindergartenalter. Der Lichterkranz steht auf dem Tisch. In seiner Mitte brennt das Lebenslicht. Es ist ein Symbol für die Einzigartigkeit des Lebens. Sein Urbild brennt an verborgenem Ort. Wenn es erlischt, stirbt der Mensch. Um das Lebenslicht herum brennen weitere Kerzen. Für jedes Lebensjahr eine. Vier müssen es sein. 

 

Es ist daher der 27. Juli 1959. Zur Feier des Tages wird ein Farbphoto gemacht. Wir sitzen auf der Knüppelholzgarnitur im Garten. Rüdiger auf einem Stuhl, breit genug für den dicken Pöter von Tante Martha, ich auf der Bank von Opa Franz. Hinter Rüdiger blühen die Gladiolen. Auf dem Tisch stehen Kosmeen. Wir lächeln im Sonntagsstaat, wie es sich gehört, wenn ein Geburtstagsphoto gemacht wird.

 

Auf der gestickten Tischdecke liegt das Geburtstagsgeschenk. Eine Packung mit Katzenzungen. Vor der kleinen Vase stehen vier rosafarbene Gummipüppchen. Ein sicheres Indiz, dass Rüdiger und ich den vierten Geburtstag feiern. Denn die Mutter verfügte über einen tiefen Symbolsinn. Die Gummipüppchen waren in Zehnerreihen zu kaufen. Die Abtrennung war an diesem Festtag gewiss nicht aus Gründen der sonst immer gebotenen Sparsamkeit erfolgt. Auch die Kosmeen waren ein Symbol. In Erinnerung an ihre Großmutter wurden sie „Großmutterblümchen“ genannt. 

 

Rüdigers Familie stammte aus dem Sudentenland. Wir waren Flüchtlingskinder, Kinder von Vertriebenen, Geschlagenen, Gefangenen, Missbrauchten, Ermordeten. Die Mutter hatte beide Eltern verloren. Sie hießen Gertrud und Hermann Moeck wie die Blockflöte, auf der ich spielen lernte. Die Toten feierten unsere Geburtstage mit. Sie waren jetzt in der himmlischen Heimat. Wir dagegen wohnten in neu erbauten Häusern und lebten doch in der Fremde. Manchmal weinten die Alten in Erinnerung an die verlorene Heimat. Heute freuten sie sich. Unsere Freude gab ihrem Überleben Sinn.

 

Der Sommerwind fährt durch die Kerze. Ein Festtag kann durch das Erlöschen des Lebenslichtes jäh beendet werden. Gut, wer dann einen Schutzpatron an seiner Seite wusste. Rüdiger hatte zweimal Geburtstag. Er war Katholik, und die begingen ihren Namenstag, an dem sie reichhaltiger beschenkt wurden als an ihrem Geburtstag. Kein Wunder, dass Rüdiger so strahlt. 

 

Ein Stück Torte gab es für jeden. Dazu ein Glas Wasser mit Himbeersirup. Der Strohhalm diente dem Schutz vor Wespen, die gerne das Glas umkreisten oder in süßer Trunkenheit hineintauchten. Dieser Tag aber ist besonders glücklich, weil der Wind weht, ohne das Lebenslicht zu löschen, und die Wespen fernhält. 

 

Frisch geschnitten sind unsere Haare. So gehört es sich bei einem festlichen Anlass wie diesem. Jeder kennt die ungeschriebenen Gesetze und weiß, was sich gehört oder ungehörig ist. Rüdiger trägt sogar ein weißes Hemd und ein helles Höschen. Gab es außer ihm noch weitere Gäste? Reinhard Flott vielleicht oder seine Schwester Doris? Sigrid Rendemann? Die Brocke-Töchter und Rendemanns älteste Kinder gingen ihre eigenen Wege wie die einzige Tochter der Wolfen. Nein, ein Freund genügt.

 

 

 

 

Der Nickneger und seine zehn kleinen Negerlein

 

Ein gespanntes Seil in der Eingangstür zum Kindergarten. Darüber gelegt eine Decke, dahinter Tante Anneliese und der Herr Kaplan. Zwei oder vier Figuren – mehr bedurfte es nicht, um 50 Kinder in Bann zu schlagen und 50 Mütter als Zuschauer zu erfreuen. Rüdiger legt die Beine übereinander und presst die Oberschenkel zusammen. Mit seiner Rechten versucht er dem Druck der Blase Widerstand entgegenzusetzen. Rüdiger ist festlich mit Schlips gekleidet. Seine Mutter hat ihn die Haare in fast mönchischer Strenge rasiert. Nur noch die Tonsur fehlt. Neben ihm sitze ich im Spielhöschen, wie ich es am Strand von Wangerooge oder Borkum getragen habe. 

 

Wir sind eins mit dem Geschehen über dem Vorhang des Kasperletheaters. Es gibt nur diesen Moment. Mir stockt vor Spannung der Atem. Die Mädchen sitzen mit Blumenschmuck in den Händen. Sie tragen Zöpfe oder den sparsamen Pottschnitt. Auch sie zittern mit. Ein Junge verbirgt sein Gesicht hinter den Händen, ein älterer bohrt vor Aufregung in der Nase. Wir alle haben vergessen, dass hinter uns zur sicheren Wacht die Mütter Platz genommen haben.

 

Väter haben im Kindergarten nichts zu suchen. Sie arbeiten und verdienen das Geld. Eine Frau, die zusätzliches Geld für den Familienunterhalt verdienen muss, gereicht dem Mann nicht zur Ehre. Ein Zweitverdiener ist Ausdruck des Mangels. Die Erziehung von Kleinkindern ist Frauensache. Sie vermitteln uns die Lieder, Geschichten und Werte.

 

Kinder mit anderer Hautfarbe gab es im Kindergarten St. Ida nicht. Eine Ausnahme bildete unser Nickneger. Wir dachten, er sei der letzte aus der Reihe der zehn kleinen Negerlein. Dieses Lied sangen wir im Stuhlkreis mit besonderer Freude und lernten nebenbei das Zählen bis zum Zehnerübergang:

 

 

„Zehn kleine Negerknaben schlachteten ein Schwein;

Einer stach sich selber tot, da blieben nur noch neun.

 

Neun kleine Negerknaben, die gingen auf die Jagd;

Einer schoss den andern tot, da waren’s nur noch acht.

 

Acht kleine Negerknaben, die gingen und stahlen Rüben;

Den einen schlug der Bauer tot, da blieben nur noch sieben.

 

Sieben kleine Negerknaben begegnen einer Hex’;

Einen zaubert sie gleich weg, da blieben nur noch sechs.

 

Sechs kleine Negerknaben geh’n ohne Schuh und Strümpf';

Einer erkältet sich zu Tod, da blieben nur noch fünf.

 

Fünf kleine Negerknaben, die tranken bayrisch’ Bier;

Der eine trank, bis dass er barst, da waren’s nur noch vier.

 

Vier kleine Negerknaben, die kochten einen Brei;

Der eine fiel zum Kessel rein, da blieben nur noch drei.

 

Drei kleine Negerknaben spazierten am Bau vorbei;

Ein Stein fiel einem auf den Kopf – da blieben nur noch zwei.

 

Zwei kleine Negerknaben, die wuschen am Nil sich reine;

Den einen fraß ein Krokodil – da blieb nur noch der eine.

 

Ein kleiner Negerknabe nahm sich 'ne Mama;

Zehn kleine Negerknaben sind bald wieder da.“

 

 

Niemand von uns lebte in einer Familie mit zehn Kindern. Allein drei oder vier Kinder durchzufüttern, kostete viel Geld. Zehn Kinderlein frassen den Eltern die Haare vom Kopf. Daher brauchten das Negerlein und seine Mama dringend unsere Unterstützung. So ähnlich erklärte es der Kaplan. In der Fastenzeit forderte er uns auf, Süßigkeiten mitzubringen und in ein Kästchen zu legen, damit auch wir kleinen Seelen unser Opfer bringen. Der junge Priester im schwarzen Rock stellte eine Spendenbüchse für das Negerlein und seine Mama auf. Unser Neger hieß Nickneger. Wer in das Kästchen mit dem Nickneger eine Münze warf, dem dankte es das Negerlein durch sein Kopfnicken. Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt, sagte der Kaplan. Ich habe dem dunklen Gesellen nie eine Münze gespendet und nie ein Bußopfer während der Fastenzeit ins Kästchen gelegt. Ich wollte noch nicht in den Himmel springen, denn die Erde war schön.

 

Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen waren Autoritäten. Persönliches gaben sie nicht preis. Bei Tante Anneliese war das anders. Denn unsere Mutter und Tante Anneliese waren Freundinnen und sind es noch heute. So besuchte ich Tante Anneliese und Onkel Paul in ihrem kleinen Hexenhaus. Das war besonders an den Festtagen eine große Freude. Überall lagen zertretene Ostereier herum, und niemand nahm an der Unordnung Anstoss. Herrlich! Onkel Paul rauchte gemütlich Pfeife oder Zigarette, und im dunklen Flur brannte das Ewige Licht. Draußen im Zwinger bellte Blitz und sprang gegen das Gitter. 

 

Onkel Paul arbeitete bei der Güterabfertigung der Deutschen Bundesbahn. Dort hatte er von Blitzens Schicksal gehört. Der Schäferhund mit der Spürnase eines Trüffelschweins besaß sämtliche Eigenschaften eines sehr guten Polizeihundes. Doch seine Karriere bei der Bahnpolizei fand ein jähes Ende, als sich im Schießstand herausstellte, dass Blitz nicht schussfest war. Eine Tragödie für Blitz. Onkel Paul hatte Mitleid und gab ihm Asyl. Blitz konnte man nicht streicheln. Das Schicksal hatte seine Seele verhärtet, und er war bissig geworden. 

 

Viele Jahre später kam ein junger Kaplan aus Zaire und predigte in der St. Ida Kirche. Er hieß Dr. Mauritius Matata und hatte seine Doktorarbeit bei Johann Baptist Metz geschrieben. Er war für die Gemeinde wie ein junger Hirsch aus den Quellgründen Afrikas. Die Zeiten hatten sich geändert und mit ihr die Zahl jener jungen Männer aus Deutschland, die ein Priesterseminar besuchen wollten. Dr. Mauritus Matata holte den Nickneger aus dem Putzraum, wo er inzwischen abgestellt worden war, und nahm ihn wieder in Betrieb. Afrika habe Hunger, sagte der Priester. Er sprach von seinen neun Geschwistern, die alle von seinem Gehalt lebten. Wenn die Gemeinde heute nicht den Nickneger grosszügig füttere, stehen morgen Hunderttausende von Afrikanern vor den Toren Europas. Dabei lachte Dr. Mauritus Matata und zeigte seine tadellosen weißen Zähne. 

 

  

 

 

 

Wunder am Wegesrand

 

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt: Immer war Adventsstimmung.   Ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter: Wir waren voller Erwartung und getragen von der Gewissheit: Ein Wunder könne sich jederzeit ereignen. 

 

Im Winter erwarteten wir den Frühling mit Wiesenschaumkraut auf  den Weiden und Sumpfdotterblumen am Loddenbach; im Frühjahr  den Sommer mit seinen Streifzügen durch die Erdbeerfelder in den Nachbargärten; im Sommer den bunten Herbst mit Hagebutten und Kastanien und dem Lambertusfest; im Herbst den Schnee und das Eis über den versumpften Wiesen. Immer reichten wir dem Wunder die Hand.

 

Ich war ein Frühaufsteher. Rüdiger ein Langschläfer. Singend stand ich um 6.30 Uhr vor der Haustür und schellte. Rüdigers Vater öffnete. Ich fragte, ob ich mit Rüdiger spielen dürfe. Er schlafe, antwortete der Vater und hatte schon entnervt die Tür geschlossen. 

 

Vierzig Jahre später besuchten Rüdiger und ich gleichzeitig unsere Eltern. Es war in der Mittagszeit, als ich an der Klingel schellte. Rüdigers Vater öffnete die Haustür, sah mich und schlug die Tür wieder zu. Der alt gewordene Mann hatte das Kind gesehen und wie damals gesagt:

 

 

„Wir essen jetzt!“

 

 

Das Vergangene ist nicht vergangen und wird niemals vergehen. Alles, was wir erlebten, ist verwandelt in lebendige Erinnerung. 

 

Es gibt Begegnungen, die durch ein langes Leben tragen. Je älter wir werden, desto kostbarer werden sie. Warum ist das so? 

 

Viele Freundschaften gründen sich auf gemeinsamen Interessen und Neigungen, auf den Vorteil, den man sich verspricht, und die Begünstigungen, die gegenseitige Förderung in beruflichen und gesellschaftlichen Dingen. Von all diesem Beiwerk ist die erste Freundschaft frei. Wir sind, was wir sind, und wollen nichts anderes sein. 

 

In jenen frühen Jahren liegen Schule, Studium und Beruf in weiter unausdenkbarer Ferne. Wir wissen nichts von den Bewährungen, die uns das Leben abverlangen wird. Jahrzehnte scheinen uns heute von der Kindheit zu trennen. Aber das gilt nur für die messbare Zeit. In uns ist Ewigkeit.

 

Das Kind in uns ist nicht erwachsen geworden, und das Lebenslicht brennt noch immer. Wir sind noch immer in Erwartung. Die Tage des Spleens und der Schwermut ändern an dieser Grundstimmung der Lebensmelodie nichts.

 

Tante Anneliese entließ uns aus dem Kindergarten mit einem Gebet an den Schutzengel. Was immer kam – wir waren bereit zu ringen oder die Hände zu falten:

 

 

„Lieber Gott,

einen Engel sende,

der mit uns nach Hause geht.

Bei jedem Schritt, bei jedem Tritt,

geh du, mein guter Engel, mit!“

 

 

Welch ein Segen, dass der Schutzengel nicht von der Seite wich! Unter seinen Flügeln geborgen, erlebte ich Wunder über Wunder. Jeder Tag bestätigte den unermüdlichen Einsatz der Engel, von dem die Gebete der Mutter sprachen. „Guten Abend, gute Nacht, von Eng’lein bewacht!“ So war es. Über die Zahl der Schutzengel gaben die Lieder klare Auskunft: 

 

 

„Abends, wenn ich schlafen geh’, 

vierzehn Engel um mich stehen.“

 

 

Die vierzehn Schutzengel schlafen nie. Sie sind auch nachmittags zur Stelle, wenn wir auf der Straße spielen. Es bedarf keiner Verabredung. Alle Kinder sind draußen an der frischen Luft. Hier gehören wir hin. Das weiß jeder. Im Haus haben wir tagsüber nichts zu suchen.

 

Wir beobachten die großen Geschwister. Manchmal dürfen wir an ihren Spielen teilnehmen. Sie spielen, was seit vielen Generationen auf der Straße gespielt wird. Pieter Breughel hat diese alten Kinderspiele ins Bild gesetzt. Wir erkennen uns auf seinem Bild wieder und erleben eine Kinderwelt, ohne Anleitung und Kontrolle der Erwachsenen. Niemand greift von außen ein, wenn ein Bein gestellt wird oder ein böses Wort fällt. 

 

Wir spielen „Himmel und Hölle“, „Hinkekästchen“ und „Gummi-Twist“. Die Straße ist noch nicht asphaltiert. Da kann man gut mit Murmeln kicken. Für Straßenspiele sind genügend Kinder da:

 

 

 „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Niemand!

Wenn er aber kommt?

Dann laufen wir!“

 

„Ochs am Berge eins, zwei, drei“ 

 

“Hexe, Hexe, eins, zwei, drei...“

 

 

 

In den Gärten schweift der Blick über Karotten-, Kohl- und Erdbeerbeete ins offene Nachbargrundstück. Die Eltern sind Selbstversorger. Eine große Stille liegt über den Gärten. Benzingetriebene Rasenmäher, Laubsauger, elektronische Gartenscheren und anderes Gerät stören nicht den Frieden ruhiger Handarbeit. 

 

Telegraphenmasten stehen neben dem Graben entlang der Straße. Wir bewundern die Arbeiter, die an ihnen hochklettern und versuchen vergeblich, es ihnen gleichzutun. Rüdiger kommt auf eine andere Idee. Mit einer Hand am Mast beginnt er sich zu drehen. Unten dümpelt der Jauchegraben. Eine Kanalisation gibt es noch nicht. Siggi löst Rüdigers Finger, er stürzt kopfüber in den Schmutz. Wir versuchen den Dreck aus seinen Haaren und von der Jacke zu klauben. Am Ende der Straße wartet bereits der Vater. Er spricht kein Wort. Mit dem Finger weist er auf sein Haus. Wie ein Hund trottet Rüdiger über die Straße. Alle wissen, was ihn erwartet. Kein Aufschrei wird erfolgen. Denn ein Indianer kennt keinen Schmerz.

 

Jenseits der Masten erstrecken sich feuchte Wiesen. Adebar stolziert durch den Sumpf. Storche bringen neue Geschwister. Aber woher nehmen sie die Kinder? Aus dem Sumpf? Gewiss nicht. Kinder haben keine Kiemen wie die Guppies in meinem Aquarium. Der Loddenbach mäandert um hohle Weidenbäume. Vom Winde gebeugt, strecken sie ihre Äste über das Wasser. Wir kriechen in die Baumhöhlen hinein und fühlten uns geborgen. Kinder wachsen in Baumhöhlen, sagt Rüdiger. Das könnte stimmen.

 

Zur Erntezeit werden die goldenen Garben zu Hocken aufgestellt. Hejo, spann den Wagen an! Die goldenen Garben sind unsere Zelte. Sie atmen den betörenden Duft des Sommers. Die kleinen Hocken bergen ein Geheimnis. Wir treten ein und verweilen, bis das Angelusläuten vom Ida Kirchturm hinüberweht oder Bauer Wortmann uns das Fell gerbt.

 

Bäche sind noch nicht begradigt. Sümpfe noch nicht trockengelegt. Im November tritt der Bach über die Ufer und überflutet das Weideland. Wir leben im Einklang mit der Natur: Der Winter zaubert die wunderbaren Muster der Eisblumen auf die einfachen Fensterscheiben und verwandelt das überflutete Sumpfland in einen zugefrorenen See. Auf ihm laufen die großen Kinder Schlittschuh. Rüdiger und ich besitzen keine. Doch Schlittern ist auch schön. Man rutscht nicht so leicht aus und fällt nicht so heftig mit dem Hinterkopf aufs blanke Eis.

 

Am Ufer des Baches hängen Glocken aus Eis am steif gefrorenen Schilf. Der Löschteich vor der Ida-Schule ist von Eis bedeckt, nur in der Mitte nicht, wo das Schilf wuchert. Ich breche ein, wage aber nicht nach Hause zu gehen. Hinter der Turnhalle entkleide ich mich, wringe die nassen Kleider aus und lege sie wieder an, damit sie auf meiner Haut trocknen. Rüdiger läuft nach Hause und verständigt den Vater. Er holt mich ab. Da ist sie wieder, die Geste der Väter: Der ausgestreckte Arm weist den Weg. Der Vater steckt mich ins Bett und zieht die Jalousien runter. Ich liege im Dunklen.  

 

Wer mit dem Kinderrad auf der Straße umkippt, fällt in den schwarzen Schotter. Die Splitter dringen tief unter die Haut von Knie, Kinn oder Ellenbogen. Am Abend wird sie der Vater mit der heißen Nähnadel entfernen. Auf diese Weise werden auch Wunden geöffnet, um Dornen und Holzsplitter zu entfernen. Wenn die Schürfwunde zu eitern beginnt, gilt die Operation als geglückt. Die Natur waltet ihres Amtes. Der Rest des Splitters verwächst sich mit der Zeit. Die Alten bewiesen es, indem sie ihre Arme und Beine zeigten, wo tief unter der Haut schwarze Punkte zu erkennen waren. 

 

Beulen auf der Stirn oder am Schienbein zeigen sich zuerst als Wölbung unter der Haut. Dann wachsen sie, pochen und nehmen eine Färbung an. Meistens wird die Beule blau und immer dicker. Aber die Haut platzt nicht. Da können wir ganz beruhigt sein. Wenn die blaue Beule sich zu färben beginnt, erst dunkelblau, dann gelb oder grün, ist sie bald verschwunden und die Haut sieht aus, als hätte es nie eine Beule gegeben. Schürfwunden heilen von ganz alleine. 

 

Wegen einer Beule muss man nicht zum Arzt. Ich trage ständig ein neues blaues Horn auf der Stirn. Einmal fahre ich mit dem Fahrrad gegen Brockes Kalksteinmauer. Die Mauer weicht nicht. Ich fahre neben meiner Mutter auf dem Fahrradweg am Hansaring. Vor dem Geschäft von Feldkeller parkt ein Wagen. Der Beifahrer öffnet die Wagentür. Er hat mich übersehen. Ich rase gegen die Tür, stürzte auf den Fahrradweg und verliere für einen Moment das Bewusstsein. 

 

Wer sich ein Auto leisten kann, der ist im Recht und hat immer Vorfahrt. Das wusste ich noch nicht. Jetzt aber weiß ich es. Zu Hause im Bett sehe ich Sterne, obwohl die Jalousien heruntergelassen sind. Sterne im Kopf sind nicht so schön wie die Sterne am Himmelszelt in klarer Winternacht. Weisst du wieviel Sternlein stehen? Doktor Holtmann weiß es. Er kommt und leuchtet mit einer Taschenlampe in die Ohren und die fiebrigen Augen. Er spricht ganz ruhig: Der Sternenflimmer werde sich in den nächsten vierzehn Tagen von alleine legen. Doktor Holtmann hat recht behalten. Zwei Wochen später will ich dem Vater entgegen fahren. Ich bin voller Freude, dass ich wieder mein kleines Rad benutzen kann und fahre, ohne auf den Verkehr zu achten, aus der Stichstraße auf den Erbdrostenweg und stürze. Das Auto habe ich übersehen. Eine Vollbremsung. Nichts ist passiert. Keine Schramme, keine Beule, keine Gehirnerschütterung. Wie wunderbar ist doch der menschliche Körper!

 

Deshalb mag ich es nicht, wenn Ärzte und Zahnärzte in ihn eingreifen wollen. Eines Vormittags liege ich dennoch auf dem Operationstisch. Die Krankenschwester bindet beide Armgelenke am Bettgestell fest. Sie sagt: 

 

 

„Na, dann wollen wir dich mal fesseln.“

„Warum?“ 

„Damit du uns nicht boxst!“ 

 

 

Jetzt erfahre ich, dass meine Polypen entfernt werden sollen. Da ist es zu spät. Das Lachgas ist nicht zum Lachen. Ich sehe schreckliche Bilder: Einen grünen Kreis, der von einem Sägeblatt durchtrennt wurde. Dahinter wird eine hautfarbene Fläche sichtbar. Rüdiger hat es besser. Ihm werden die Mandeln entfernt. Deshalb bekommt er im Krankenhaus so viel Schokoladeneis, wie er will. 

 

Der Wald war unser Spielplatz. Wie die Bäume, so wollten wir hoch hinaus. Wir kannten keine Angst vor großen Höhen, kletterten in die Kronen und ließen uns von den Ästen tragen. Stolz zeigten wir unsere Schürfwunden vom Klettern in Bäumen. Knie und Unterschenkel juckten vom Saft der Brennnesseln. Abends im Bett glühten Arme und Beine. Selbst Stürze vom Dach einer Laube in den Sandkasten konnte man ohne Rippenbrüche überleben. Das hatte Rüdiger mit einem Kopfsprung bewiesen. Zwar blieb ihm für Sekunden die Luft weg und es dauert einige Zeit, bis sich der Atem wieder beruhig hatte, aber sein Schutzengel hatte ihn getragen. Auch als er mit der Stirn gegen die scharfe Kante einer Mauer fiel, dämpfte er den Aufprall. Doktor Holtmann brauchte nur wenige Stiche, um die Wunde zu nähern und nach drei Stunden war Rüdiger wieder zur Stelle und spielte die alten Spiele, die allen Schmerz vergessen lassen.

 

 

 

 

 

 

Die Lebensmelodie 

 

Der Vater sang selten. Das verstärkte die Wirkung. Sein Repertoire bestand aus zwei Sommerliedern und einem Winterlied. In ihnen wurde unsere kleine Welt beschrieben. Das erste Sommerlied  war sehr zart und erzählte von den Vögeln in den Obstbäumen unseres Gartens, den Blumen draußen auf den Wiesen und dem Loddenbach. Da wurde das Herz still und andächtig.

 

 

„Vöglein im hohen Baum, 

klein ist’s ihr seht es kaum,

singt doch so schön,

dass wohl von nah und fern

alle die Leute gern

horchen und stehn,

horchen und stehn.

 

Blümelein im Wiesengrund

blühen so lieb und bunt

tausend zugleich.

Wenn ihr vorüber geht,

wenn ihr die Farben seht

freuet ihr euch,

freuet ihr euch.

 

Wässerlein fließt so fort,

immer von Ort zu Ort

nieder ins Tal.

Dürsten nun Mensch und Vieh,

kommen zum Bächlein sie,

trinken zumal,

trinken zumal.“

 

 

Das war eine Melodie wie aus meinem Herzen. Die Mutter kannte noch eine weitere Strophe. Der Vater ließ sie weg, weil er nicht an den lieben Gott glaubte.

 

 

“Habt ihr es auch bedacht,

wer euch so schön gemacht,

alle die drei?

Gott, der Herr, machte sie,

dass sich nun spät und früh,

jedes dran freu,

jedes dran freu.“

 

 

 

Der Kuckuck war ein arger Räuber. Er legte seine Eier in fremde Nester und ließ sie von Leihmüttern ausbrüten. Das war gemein, kam aber auch unter Menschen vor. Im Kindergarten gab es ein Kuckuckskind. Darüber durfte nicht gesprochen werden, aber alle kannten es. Das Kuckuckskind lebte allein mit seiner Mutter. Der Vater war nämlich nicht der Vater gewesen, so wurde gesagt. Wie aber merkt ein Vater, dass er nicht der Vater ist? Das war eines der Rätsel, die den Kuckuck und seine Kinder umgaben. Wie merken Kuckuckskinder, dass sie Kuckuckskinder sind? Spüren sie es im Herzen oder im Bauch? Sehen sie es dem Vater an? Ist man ein Kuckuckskind, wenn man sich fremd fühlt und das Herz schwer wird? 

 

Vielleicht war auch ich ein Kuckuckskind? Das zweite Sommerlied des Vaters war ein Kuckuckslied. Machte ihn das verdächtig? 

 

 

„Auf einem Baum ein Kuckuck, 

simsalabimbambasadusaladim, 

auf einem Baum ein Kuckuck saß...“ 

 

 

Das war lustig und kam flott daher. Aber ich ließ mich nicht täuschen. „Simsalabim“, sagte der Zauberer im Kindergarten. Der Kuckuck war wie ein Zauberer. Das wusste jeder. Wenn sein Ruf erklang, dann antworteten wir: „Kuckuck, sag’ mir doch, wie viel’ Jahre leb’ ich noch?“ Dann zählten wir die Anzahl seiner Rufe. Wenn sie kein Ende nehmen wollten, ließen wir das Zählen. Denn alles, was über die Zahl zehn hinausging, lag in so weiter Ferne, dass es uns nicht bewegte. Rief er aber nur drei oder vier Mal, taten wir so, als hätten wir nichts gehört. Der Kuckuck, von dem der Vater sang, wurde von einem Jäger erschossen. Ein Jahr später saß er wieder auf dem Baum und sang. Ja, das war Zauberei. Die konnte niemand verstehen.

 

Vaters Winterlied sang ebenfalls von unseren Erlebnissen in Wald und Flur: den schneebeglänzten Feldern und dem mit Eis bedeckten Loddenbach.

 

 

„Es ist für uns eine Zeit angekommen, 

die bringt uns eine große Freud’.

Übers schneebeglänzte Feld

Wandern wir, wandern wir,

durch die weite weiße Welt.

 

Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise,

es träumt der Wald einen tiefen Traum.

Durch den Schnee, der leise fällt,

wandern wir, wandern wir,

durch die weite weiße Welt.

 

Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen

Erfüllt die Herzen mit Seligkeit.

Unterm sternbeglänzten Zelt

Wandern wir, wandern wir

durch die weite weiße Welt.“

 

 

 

In der Küche summte der Wasserkessel auf dem Herd, draußen rauschten die Blätter, der Loddenbach murmelte und die Vögel zwitscherten, die Schweine grunzten, die Kühe muhten, die Pferde wieherten – die Welt war Klang. Nur die Fische im Aquarium glotzen  stumm.

 

Manchmal kam Gerald vorbei. Er sang: „Pigalle, das ist die große Mausefalle mitten in Paris, Pigalle, Pigalle, der Speck in dieser Mausefalle schmeckt so zuckersüß“ und klatschte dabei in die Hände. Gerald war einige Jahre älter als wir. Er ging auf eine besondere Schule, denn er dachte anders als wir. Davon wussten wir aber nichts, denn auf der Straße ist Platz für alle. Gerald hatte ein wunderbares Gedächtnis für Schlagertexte. Wir nannten ihn Pigalle, und er freute sich darüber. Dann sang er: „Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ und „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“. Gus Backus konnte er perfekt imitieren: 

 

„Ja, meine Mutter sagt: Steck’ keine Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren. Und auch der Lehrer klagte: Du hast Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren. Und so geht’s mir auch heute: Ich hab Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren.“ 

 

 

Als Fan von TSV 1860 München verehrte Gerald den Torwart Petar Radenkovic, den die Münchener „Radi“ nannten. Radi Radenkovic war auch ein Sänger. Gerald liebte seinen Schlager „Bin I Radi, bin I König“.

 

Im Spätsommer zogen wir mit selbst gebastelten Lampions durch die Abenddämmerung und feierten das Lambertusfest. Die Väter hatten Holzpyramiden aus Dachlatten gezimmert und sie mit grünen Zweigen der Thuja geschmückt. Dann kam die Nacht und erste Sterne wurden sichtbar. Bunte Laternen leuchteten an der Pyramide. Wir umkreisten sie mit unseren Lampions und sangen:

 

„Ich geh mit meiner Laterne

und meine Laterne mit mir.

Da oben leuchten die Sterne,

hier unten, da leuchten wir...“

 

Da oben am Himmelszelt leuchten die Sterne, hier unten auf der Erde, da leuchten unsere Laternen. Ja, so war es: Die Welt war wunderbar im Ganzen. 

 

„Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne.

Brenne auf mein Licht, 

brenne auf mein Licht, 

aber nur meine liebe Laterne nicht...“ 

 

Diese Zauberworte waren notwendig, denn immer wieder geschah es, dass eine Laterne abfackelte und ausgetreten werden musste. Eines der Lieder begann mit einer Frage: 

 

„Guter Freund, ich frage dir,

bester Freund, was rätst du mir: 

Sag’ mir, was ist Eine?“ 

 

Die Antwort lautete: 

 

„Einmal eins ist Gott allein, 

der da lebt und der da schwebt, 

im Himmel und auf Erden.“ 

 

In der neunten Strophe dieses Liedes war die Rede von den neuen Chören der Engel. 

 

„Guter Freund, ich frage dir,

bester Freund, was rätst du mir: 

Sag’ mir, was sind Neune? 

Neun Chör‘ der Engel...“ 

 

 

Was ein Engel ist, wusste jedes Kind. Aber was sind neun Chöre der Engel? Niemand kannte die Antwort, obwohl alle das Lied sangen. Das sei eine Frage für den Herrn Kaplan, sagte Tante Anneliese. Und richtig. Er wusste die Antwort, und dann wusste sie auch Tante Anneliese. Jedes Kind hat mindestens einen Schutzengel, sagte der Herr Kaplan. Neben unseren Schutzengeln gebe es noch viel mehr Engel. Einige helfen dem Pfarrer bei der Messe. Sie passen auf, dass kein Krümel vom Leib des Herrn verlorengeht. Einmal sei ihm die Hostie aus der Hand gelitten und wäre auf den Boden gefallen, wenn nicht der Engel zur Stelle gewesen wäre. Die neun Chöre der Engel wohnen bei Gott im Himmel, weit hinter den Sternen. Sie singen den ganzen Tag wunderschöne Lieder. Da könnten wir uns vorstellen, wie glücklich diese Engel seien. Sie werden noch glücklicher, wenn wir am Lambertusfest mit ihnen singen. 

 

So war das Rätsel der Engelchöre geklärt. Gott und die Chöre der Engel wohnen hinter den Sternen im Himmel. Zum Mond und den Sternen konnte man fliegen. Der kleine Häwelmann hatte es bewiesen. Er hatte sein Hemdchen über dem großen Zeh wie ein Segel gespannt, aus voller Kraft hineingeblasen und war so mit seinem Kinderwagen durch das Schlüsselloch gefahren. 

 

Fliegen war kinderleicht, wenn man ein bestimmtes Abendlied gesungen hatte. Zuerst schlief ich ein. Dann träumte ich, bewegte die Arme gleichmäßig und ruhig und erhob mich in die Lüfte. So gelangte ich ins Paradies:

 

 

„Guten Abend, gute Nacht,

von Englein bewacht.

Sie zeigen dir im Traum,

Christkindleins Baum.

Schlaf nun selig und süß,

schau’ im Traum vom Paradies.“

 

 

Vielstimmig erklingt die Lebensmelodie, manchmal laut und unüberhörbar, dann als ein leiser Seelenhauch. Zuweilen stockt ihr der Atem. Sie kann verstummen. Aber niemals für immer. 

 

Lieder der Kindheit. Frühes Glück des Wiedererkennens: Das bin ja ich! Gleiches wird durch Gleiches erkannt. Homöopathie der Herzen. Seelenverwandtschaft: Du gehst deinen Weg nicht allein. 

 

Gewissheit: Was für uns bestimmt ist, wird uns auch finden. Frühe Musik der Kindheitstage. Zum ersten Mal gehört und nie vergessen: Die Auflösung der Gegensätze im Walzerklang von Jean Sibelius’ Valse triste, die unvermittelt auftauchenden Stimmungswechsel von panischem Schrecken und jubelnder Apotheose in Gustav Mahlers 1. Sinfonie, das alle Wehmut sprengende Allegro molto vivace von Pablo de Sarasastes Zigeunerweise. The Fairy Queen von Henry Purcell und die engelgleiche Stimme von Alfred Deller, voller Innigkeit, Schwermut und Heiterkeit, ein Seelenton ewiger Kindheit. Nie wird sie verstummen, was immer kommt. 

 

 

 

 

 

 

 

"Ich habe angefangen,

meine Jugend-Geschichte aufzuschreiben

und bin überrascht,

wie klar sich das längst vergessene Geglaubte

wieder vor mir auseinander breitet.

Nun darf ich fortfahren,

denn nun bin ich gewiss,

dass ich mein Leben darstellen kann

und nicht darüber zu räsonieren brauche."

 

Friedrich Hebbel. Tagebuch vom 16. September 1846