Drei sehenswerte Filme, in denen Engel eine Rolle spielen:

Frank Capra: Ist das Leben nicht schön?

 


Nicht nur die Filmliste des Vatikans lobt dieses Meisterwerk von Frank Capra (1897-1991). „Ist das Leben nicht schön?“ (1946) ist eine Meditation über die Erfahrung des Sinnverlustes. Eine Krise kommt selten allein: George Bailey (James Stewart) gerät in den wirtschaftlichen Bankrott, verliert die Nerven, wird unduldsam gegenüber seinen Kindern und seiner Frau (Donna Reed), zweifelt an allem und geht schließlich auf eine Brücke, um sich in den Fluss zu stürzen. An dieser Stelle könnte der amerikanische Titel des Filmklassikers, der von vielen Kritikern als bester Film aller Zeiten gepriesen wird, geradezu zynisch wirken. „It’s a wonderful life“ klingt für unsere Ohren allzu sehr nach Hollywood-Propaganda. Für George Bailey ist das Leben nicht mehr schön. 

Der Suizid galt über Jahrhunderte als Todsünde. Denn das Leben ist unverfügbar. Ein Geschenk Gottes. Er allein ist Herr über das Leben. Noch Goethes evangelisch getaufter Werther wird nach seinem Freitod am Rande des Friedhofes und ohne Begleitung durch einen Geistlichen beigesetzt. Der moderne Hiob auf der nächtlichen Brücke hat alle menschlichen Beziehungen hinter sich gelassen. Kein Trost nirgends. Das ist die erzählerische Spannung, wie sie christliche Legenden und Film-Legenden vor dem Auftritt des Erlösers aufbauen. Wie rettet man einen Menschen jenseits aller Grenzen? Nur noch durch einen Einsatz von außen! George Bailey ist der erlösungsbedürftige Mensch. Sein Suizidversuch stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Francesco Rosario Capra, wie seine Taufnamen lauteten, war getragen von seinem katholischen Glauben. Seit früher Kindheit in Sizilien kannte der Sohn eines Obstpflückers dramatische Verstrickungen des Lebens. Frank Capras Familie versuchte der Armut durch eine Auswanderung nach Amerika zu entfliehen. Die Schrecken der mehrtägigen Überfahrt im Bauch des Schiffes, die Begrüßung der Freiheitsstatue als Zeichen der Hoffnung, die Jahre der äußersten Armut und des Überlebenskampfes haben Capra geprägt, aber sein Gottvertrauen nie gebrochen. Capra war sich nicht zu schade, jede Form der Arbeit anzunehmen. Er machte sich schließlich einen Namen, drehte viele Filme, hatte große Erfolge und gehörte 1936 zu den bestbezahlten Regisseuren in Hollywood. Doch nie vergaß er die Prüfungen auf seinem Lebensweg.

Dieser Optimismus, diese strahlende Zuversicht eines sizilianischen Auswanderers ist letztlich ein Gottesgeschenk. Deshalb kommt die Rettung für den am Leben Verzweifelten auf der Brücke direkt aus dem Himmel. Die Größe des Films besteht in seiner Freiheit von allem Moralismus. Capra schickt keinen evangelikalen Prediger vom Himmel und keinen Priester, der George Bailey einen Vortrag über Todsünden hält. Der Einsatz eines Engels im Pensionsalter mit von Lachfalten zerfurchtem Gesicht, eines Engels ohne Flügel, aber mit viel Humor, war Frank Capras genialer Einfall. James Stewart und für die weibliche Hauptrolle Donna Reed waren leichter zu finden, als ein Darsteller des Engels Clarence. Capra fand ihn in einer verwandten Seele. Henry Travers (1874-1965) hatte irisch-katholische Wurzeln. Früh machte er auf den Bühnen Amerikas Karriere, drehte Stummfilme und war auch im Tonfilm ein beliebter Schauspieler. Die Rolle des Engels Clarence gilt als Höhepunkt seiner Karriere.

Der Film atmet höhere Heiterkeit. Sie ist Frank Capras Antwort auf die Sinnfrage. Gerade in dem Augenblick, da sich George Bailey in die Fluten stürzen will, fällt der Engel Clarence vom Himmel und landet im Wasser. Er gilt als „Engel zweiter Klasse“ und muss sich durch diesen Einsatz seine Flügel verdienen. Das klingt so  haarsträubend, dass ihm der Verzweifelte kein Wort glaubt. Der vom Himmel gefallene Engel steigert sogar die Verzweiflung des Verzweifelten. Bailey wünscht, nie geboren worden zu sein. Diesen Wunsch nimmt der Engel ernst und beweist nun seine himmlische Begabung, indem er vor dem Suizidanten und den Zuschauern einen alternativen Film von George Baileys Lebens laufen lässt. Wie wäre das Leben der anderen Menschen ohne George Bailey verlaufen? 

In der Kleinstadt Bedford Falls hatte Bailey eine kleine familiär geführte Bank geleitet. Sie vergab attraktive Bau-Darlehnen für die gering verdienenden Familien. Ihr Gegenspieler ist ein Mr. Potter. Der Film im Film zeigt nun den unaufhaltsamen Aufstieg dieses Kapitalisten. Wäre Bailey nie geboren worden, so hätte niemand diesem Gierschlund die Stirn geboten. Der Sinn des Lebens beruht im Dienst für andere Menschen. So lautet die Lektion des Engels in tätiger Nächstenliebe. Diese erschöpft sich nicht in Demut und Duldung. Sie verlangt Stärke, Widerständigkeit und Kampfgeist. Der Film endet mit einem Wunder an Menschlichkeit. Ins Leben zurückgekehrt, wird der Bankier Bailey von seinen Gläubigern unterstützt. Das genossenschaftliche Engagement ist bei vielen Banken in kirchlicher Trägerschaft verbreitet. Damals erregte es die Aufmerksamkeit des FBIs. „Ist das Leben nicht schön?“ stand unter dem Verdacht kommunistischer Propaganda. Der Film wurde zuerst kein Erfolg. Dann aber fand er seine Zuschauer. 

Am Ende des Film zieht sich der Engel Clarence nach erfolgreicher Mission zurück in den himmlischen Ruhestand. Jeder Erfolg ist ein Geschenk. Aber Ruhm und Ehre bleiben ein flüchtiges Gut. Frank Capra stand mitten in den Dingen, aber die Dinge standen nicht über ihm. Er konnte, was wenige Menschen vermögen: fröhlich Abschied nehmen, mit dem Erreichten zufrieden sein und sich am Leben der anderen freuen. Nach 54 Filmen ging Frank Capra im Jahre 1964 in den Ruhestand. Damals war er 67 Jahre jung und lebte in voller geistiger Frische und Lebensfreude bis zu seinem 94. Lebensjahr. Wie Capra sah Henry Travers den Sinn des Lebens nicht im Filmemachen. Er beendete, nachdem er sich die Flügel verdient hatte, seine Karriere und  führte über Jahrzehnte ein glückliches und erfülltes Leben an der Seite seiner jungen Frau. Auch er überschritt heiter sein 90. Lebensjahr. Das Leben ist schön. Nicht nur, wenn es sich so vollendet. Schön und voller Wunder ist es auch in den Krisen.

 

 

Ingmar Bergmann: Fanny und Alexander


Tiefer hätte Ingmar Bergmann (1918-2007) mit seinem letzten Film „Fanny und Alexander“ (1982) die lutherische Staatskirche Schwedens nicht treffen können als durch die Erfindung eines wahrhaft diabolischen Pfarrers, den er ausgerechnet auf dem höchsten Bischofssitz des Landes in Uppsala setzt. Bischof Edvard Vergérus (Jan Malmsjö) heiratet die verwitwete Schauspielerin Emilie Ekdahl (Ewa Föling). Mit ihren Kindern Fanny und Alexander zieht sie in das Bischofshaus mit den vergitterten Fenstern. Die Gitter wurden nach dem Selbstmord der ersten Gattin des Bischofs und ihrer Kinder angebracht. Wie ein Sektenführer verlangt der Bischof nach erfolgter pietistischer Gehirnwäsche von seiner neuen Familie die völlige Aufgabe allen Besitzes und sämtlicher familiärer Bindungen zu der ganz anderen Welt ihrer Herkunft: einer großbürgerlichen und großzügig denkenden Hausgemeinschaft von drei erwachsenen Brüdern mit ihrer verwitweten Mutter Helena (Gunn Wållgren), von deren Geld alle leben. Emilie Ekdahls Mann war Schauspieler und führte mit seinem Bruder Gustav Adolf das Familientheater. 

Bergmanns Film ist als Pubertätsparabel auch eine Abrechnung mit seiner eigenen Kindheit im evangelischen Pfarrhaus. Die Gestalt des sadistischen Bischofs von Uppsala wirkt wie ein ins Diabolische gesteigertes Bild seines eigenen Vaters. In seiner Autobiographie „Mein Leben“  („Laterna Magica“, 1987) erinnert er sich: „Unsere Erziehung beruhte hauptsächlich auf Begriffen wie Sünde, Bekenntnis, Strafe, Vergebung und Gnade“. Vergehen wurden mit Kinoverbot, Essenverbot, Verbannung ins Bett, Stubenarrest, Strafarbeiten im Fach „Rechnen“, Schläge auf die Hände mit dem Teppichklopfer oder Reißen an den Haaren geahndet. Der Vater war in allen Sanktionen so erfinderisch wie die Filmfigur des Bischofs. Ingmar Bergmann reagiert ähnlich wie sein Spiegelbild Alexander mit Lügen und Verstellungen. Er wurde zum Bettnässer, entwickelte ein Reizdarmsyndrom und litt unter Schlaflosigkeit. Traumatisierend wirkte auch das Verhalten der Mutter. „Was ich mit Sicherheit sehe ist, dass unsere Familie aus Menschen guten Willens bestand, die durch ein katastrophales Erbe mit übertriebenen Forderungen, schlechtem Gewissen und Schuld belastet waren.“

Über dieser Familienaufstellung wölbt sich in dem Film der gnädige Himmel des Theaters. Die erste Einstellung im Prolog zeigt den jungen Alexander vor seiner eigenen kleinen Kinderbühne. „Ei blot til lyst“ - „Nicht nur zum Vergnügen“ liest der Zuschauer und erkennt darin die Inschrift am Proszenenium des Royal Danish Theatre in Kopenhagen wieder. Das Leben ist ein Spiel, großes, oft schmerzvolles Welttheater voller Abschiede, Brüche, voll Scheitern und doch voller Liebe und Zuwendung der Liebenden, eben wunderbar und herrlich in seinem Geheimnis. Von diesen Wundern und Rätseln des Lebens versteht die kleine Schwester noch nichts. Sie bleibt Zuschauerin der Leiden ihrer Bruders Alexander. Seine Mutter ist viel zu sehr mit sich und später mit dem Sterben ihres Mannes Oscar beschäftigt, als sie die Verwirrungen ihres pubertierenden Sohnes überhaupt wahrnimmt. Die überragende Muttergestalt auch für Alexander ist Großmutter Helena Ekdahl. Noch im hohen Alter nicht frei von weiblicher Eitelkeit flirtet sie jetzt in keuscher Weise mit dem einstigen Liebhaber ihrer Jugend. Es ist der jüdische Antiquitätenhändler Isaak Jacobi (Erland Josephson). Mit ihm hebt Ingmar Bergmann seine Pubertätsparabel auf eine mystische Ebene. Wie ein chassidischer Wunderrabbi vermag Isaak Jacobi die Gesetze von Zeit und Raum aufzuheben. Nachdem alle Versuche der Befreiung aus der Hölle des lutherischen Bischofs gescheitert sind, löst er die Schreckensbande durch eine Bilokation wie sie auch in den Legenden einiger Heiliger bezeugt wird.

Die Kinder wohnen nun in Jacobis Kuriositätenkabinett. Hinter Gittern verschlossen lebt hier ein Neffe des Händlers. Die Begegnung mit Ismael Retzinsky sei gefährlich, heisst es. Alexander drängt es dennoch zu diesem androgynen Wesen, das von der Schauspielerin Stina Ekblad (*1954) verkörpert wird. Ismael kann Alexanders Gedanken lesen, kennt daher seine mörderische Wut auf den Bischof. Mit den Worten „Ich bin dein Engel, der dich beschützt!“, gibt sich Ismael als Alexanders Schutzengel zu erkennen. Bald erweist er sich als Engel der Rache. Durch seine Unterstützung gelingt es Alexander in reiner Übertragung der Gedanken ein Feuer im Bischofshaus zu entzünden, in dessen Flammen der Unhold umkommt. Mutter und Kinder kehren in den Schoß der Großfamilie zurück und nehmen die Arbeit am Theater wieder auf.

Eine Laterna Magica zur Erzeugung bewegter Bilder gehörte zu Alexanders frühen Besitztümern. Hier werden die Wirklichkeitsebenen im spielerischen Ernst überschritten. Überwirklich wie die Engel sind auch die Erscheinungen des verstorbenen Vaters, die Alexander in seinem Weg des Erwachsenwerdens begleiten. So bezeugt der Film ein Grundvertrauen in die guten Mächte, ohne das Böse zu leugnen. Ingmar Bergmann hat „Fanny und Alexander“ ursprünglich in einer Langfassung (326 Minuten) für das Fernsehen gedreht und aus diesem Material eine Kinofassung (188 Minuten) erstellt. Er wusste, dass er dieses Werk nicht mehr überbieten könnte und widmete sich in den ihm verbleibenden fünfundzwanzig Lebensjahren wieder dem Theater und der Pflege seines Nachruhmes. Mit seiner Kindheit im schwedischen Pfarrhaus hat er sich nie aussöhnen können. Das Leben seiner Eltern hat er in dem Drehbuch zu Bille Augusts Film „Die besten Absichten“ (1991) erzählt. Warum viele skandinavische Regisseure Bergmanns Bild vom lutherischen Pfarrhaus gefolgt sind, wäre eine Erörterung wert. Vielleicht ist es der Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit, vielleicht sind es übertriebene moralische Erwartungen, vielleicht aber auch eine fehlende Gelassenheit in der Beurteilung der Diener Gottes. Wie es um Ingmar Bergmanns Glauben steht, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist er selbst nicht nur der junge Alexander, sondern zugleich sein Schutzengel Ismael. Und darin liegt das Geheimnis dieses Glaubensfilmes.

 

 


Wim Wenders: Himmel über Berlin


Wim Wenders (*1945) Film „Der Himmel über Berlin“ (1987) erzählt von der Menschwerdung eines Engels. Märchen oder Sage nannte man früher Geschichten, in denen sich himmlische Mächte und Männer unsterblich in eine höchst irdische Frau verliebten. Peter Handke, der mit Wim Wenders am Drehbuch arbeitete, griff auf die biblische Geschichte vom Engelsturz (Genesis 6.1-4) zurück. Die Grenzüberschreitung einiger „Gottessöhne“ hatte ein sexuelles Motiv, weshalb Augustin den logischen Schluss zog: Es können keine Engel gewesen sein, die auf die Erde kamen, um mit den Frauen die Beine zu kreuzen. Nur Teufel machen so etwas. Im Judentum gibt es eine breite Wirkungsgeschichte dieser merkwürdigen Grenzverletzung. So entnimmt Leo Perutz der Engelehe ein Verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit, das sich keineswegs im Sexuellen erschöpft.

Bruno Ganz und Otto Sander spielen die beiden Engel Damiel und Cassiel. Vor dem Mauerfall kommen sie nach Babylon-Berlin und bewegen sich für Menschen unsichtbar durch den Moloch. Einige Menschen spüren ihre Gegenwart durch eine geistige Nähe oder einen Moment der Inspiration, finden durch die Auflegung der Hand eines Engels Trost. Andere bleiben in ihrer Einsamkeit oder Gefahr allein. Wenders Engel sind nicht allmächtig. In dem Film gibt es Berufene mit einer besonderen Affinität zu den Engel. Zu ihnen gehören die Kinder. Sie haben den Engelblick und schauen die Schutzengel von Angesicht zu Angesicht. Bei den Dreharbeiten zu einem Film über die braune Vergangenheit der Stadt begegnet Damiel an einer Currywurstbude einem Engel, der bereits Mensch geworden ist. Dieser Engel wird von Peter Falk dargestellt. Er spürt Damiels Anwesenheit, kann ihn aber nicht sehen. In einem Monolog preist Peter Falk die Freuden des irdischen Lebens. Es sind die kleinen Dinge des Alltags, das Lesen einer Zeitung, die Fütterung einer Katze und all’ jene vergänglichen Dinge, die kein Engel kennt. Wie Rilke will Damiel eintauchen in die Schöpfung mit ihrer Einmaligkeit und Vergänglichkeit. Er wird Mensch, während Cassiel in seiner Rolle als Zuschauer zum irdischen Leben Distanz hält. Cassiel bleibt Beobachter, Damiel sucht nach einer Erfahrung, die nur dem möglich ist, der sich der Welt aussetzt. Auf einem Konzert mit Nick Cave lernt er die Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) kennen. Nick Cave spielt „From here to eternity“. Damit endet der Film. Der menschgewordene Engel weiß jetzt, was kein Engel weiß.

Wenders Film macht aus dem Engelsturz einen Inkarnationsmythos. Der Himmel kommt auf die Erde. In den großen schwingenden Bewegungen am Trapez steigt der Künstler in gegenläufiger Bewegung zum Himmel auf. So ist der Film auch eine Anleitung zur Transzendierung. Es schildert viele stille Momente, in denen sich Menschen durch die Gegenwart des Engel emporgehoben fühlen, etwa beim Studium von Büchern. Die Bibliothek gehört zu den Lieblingsaufenthalten von Wenders Engeln. Da sie Gedanken lesen können, hören und verstehen sie die vielen Sprachen, in denen sich hier eine geistige Welt öffnet. Engel kennen keine Grenze von Raum und Zeit. Deshalb können sie auch in einer wahrhaft prophetischen Szene des Films durch die damals noch bestehende Berliner Mauer gehen. 

Der Film ist wahrlich nicht alt. Doch zeigen die Bibliotheksszenen ohne Computer und I-Phones ein geradezu archaisches Bild von unseren Universitäten. Wo sind die Schüler und Studenten geblieben, die sich noch über Bücher beugen, die Texte lesen und verstehen und verständlich darüber schreiben können? Viele Kinder und Jugendliche sind heute unbeschulbar, werden aber dennoch durch Noteninflation und Aufhebung aller verantwortlichen Maßstäbe zum Abitur geführt. Goethe, Schiller, Heine, ganz zu schweigen von der Bibel und der großen Überlieferung der Antike sind vielen Menschen unlesbar geworden. Curt Bois vertritt in Wenders Film die Rolle Homers, der großen Erzählers, der sein Publikum verloren hat. 

Wim Wenders Liebesmärchen setzt einen langen Atem und die Bereitschaft voraus, ein wenig spekulative Theologie und Engelkunde (Angelologie) zu treiben. Ein echter Glaubensfilm also, auf den sich der Einzelne oder die Gemeinde einlassen muss. Wer es leichter, doch durchaus nicht seichter, haben will, kann zu dem  Remake „Stadt der Engel“ (1995) mit Nicolas Cage und Meg Ryan greifen. Er ist ein klassischer „Frauenfilm“, wie schon die Werbung signalisiert: „Sie glaubte nicht an Engel, bis sie sich in einen verliebte.“

Wie aber steht es um Wim Wenders Glauben? Er wuchs in einer gläubigen Familie auf und fühlte sich als junger Mann zum Priester berufen. Auf dem humanistischen Gymnasium lernte er die alten Sprachen. Statt des Priesterseminars wählte er die Münchener Filmhochschule. Die vermeintliche Berufung war Wenders erstes Rollenspiel. Wenders und seine zwanzig Jahre jüngere Frau, die Photographin Donata Wenders (*1965), haben anscheinend eine pietistische Neigung. Bei ihr kommt diese Verknüpfung von Gotteserfahrung und Biographie etwa in der Zusammenarbeit mit dem Geigenbauer und Schriftsteller Martin Schleske („Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens“, 2010) zum Ausdruck. Wenders konvertierte unter dem Eindruck einer presbyterianischen Gemeinde in Amerika zum evangelischen Glauben. Der Regisseur des Filmes „Papst Franziskus-Ein Mann seines Wortes“ (2018) ist auch nach der Verleihung des theologischen Ehrendoktors der Universität Fribourg nicht in die una sancta zurückgekehrt. „Ich bin ökumenischer Christ. Punkt“, sagte er in einem Gespräch mit Evelyn Finger. 

Wim Wenders Engel sind Streetworker Gottes im ökumenischen Einsatz an den sozialen Brennpunkten. Will man den Film biographisch deuten, so steht der Engel Damiel für die Aufgabe des priesterlichen Dienstes, während Cassiel seiner zölibatären Berufung treu bleibt. „Der Himmel über Berlin“ ist mit Abstand Wenders bester Film. Bruno Ganz spielte hier die Rolle seines Lebens. Längst er ist wie alle anderen Darsteller gestorben. So ist der Film auch sein Vermächtnis.