Erfahrungen beim biografischen Schreiben

 

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"electis dilectis"

 

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Woher kommt die Leidenschaft für das Unzeitgemässe?

In den hier versammelten Portraits gehe ich dieser Frage nach.

 

 

 

 

Viele Menschen möchten ein Lebenszeugnis hinterlassen. Sie schreiben ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf. Bald erkennen sie: Das Leben lässt sich nicht leicht erzählen. Es ist mehr als die Summe von Fakten. Da schwingt in allen Entscheidungen und Ereignissen ein Fremdes und Fernbestimmtes mit. Das merkt, wer aus Anlass einer Trauung oder Beisetzung, einer Goldenen Hochzeit oder eines Priesterjubiläums versucht, Rechenschaft über ein fremdes Leben zu geben. Biografisches Schreiben ist die Kunst, aus dem Geist der Liebe der ungeschminkten Wahrheit ins Auge zu blicken und diese auszuhalten. Aus den Schlüsselerlebnissen erhellt sie die Sendung eines Menschen.

Jeder Mensch hat eine einmalige Biografie. Doch selten hat sie ein Anrecht auf das Interesse der Nachgeborenen. Nur über große Menschen werden Biografien geschrieben und gelesen. Was aber ist Größe? Nicht das Gute, sondern das Ganze eines Lebens, das über sich und seine Zeit hinausragt. Wir brauchen Vorbilder. Große Menschen sind selten nur gute Menschen, denn was sie vor den Augen der Nachwelt einst groß gemacht hat, wurzelte oft in übertriebenem Ehrgeiz und Geltungswillen, gründete sich auf Versagen gegenüber Menschen, die im Weg standen.

Es rieche allzu sehr nach Opfer in seiner Nähe, lässt Thomas Mann die alt gewordene Jugendliebe in „Lotte in Weimar“ sagen. Goethe antwortet darauf mit dem berühmten Gleichnis vom Schmetterling, der sich als Selbstopfer in die Flamme stürzt.

Die Schattenseiten eines Menschen posthum ins Licht der Öffentlichkeit zu stellen, kann für die Nachgeborenen heilsam sein. Der berühmte Hagiograf Walter Nigg (1903-1988) hat in seinen Lebensbildern die Haltung letzter Wahrhaftigkeit eingenommen. Er schrieb mit liebendem Blick, doch ohne den kitschigen Goldglanz alter Legenden. Sein Klassiker „Große Heilige“ (1946) hat Generationen von Priestern und Ordensleuten geprägt. Auch mir wurde er zum Vorbild biografischen Erzählens.

Biografien führen zur Begegnung mit großen Menschen. Nicht ihr Seitenumfang oder ihr wissenschaftlicher Anmerkungsapparat machen ihre Qualität aus, sondern ihr Zugriff auf die Mitte der Persönlichkeit in teilnehmender Beobachtung. Jede Biografie ist auch ein Spiegel der Persönlichkeit des Biografen und seiner Zeit. Denn das Leben großer Menschen ist unausdeutbar. Keine Biografie kann es erschöpfend beschreiben. In immer neuen Facetten gibt es sich preis oder verhüllt sich im Geheimnis. Deshalb kann es keine erschöpfende Biografie geben. Das gilt auch für das Leben Jesu wie es Papst Benedikt XVI. noch einmal erzählt hat. Schon die vier Evangelien und die Apokryphen beschreiben die Gestalt Jesu multiperspektivisch. In der Vielfalt der Biografien tritt sein Geheimnis leuchtender hervor.

Mich haben als Biograf jene Menschen bewegt, die in ihrer Zeit eine große Breitenwirkung erzielten, nach ihrem Tod kurz im Nachglanz leuchteten, doch bald vergessen wurden. Über die Bedeutsamkeit in ihrer Lebenszeit legen die Bestände in den Antiquariaten Zeugnis ab oder die alten Bücher in den Regalen der verstorbenen Eltern, die nun vielleicht zum ersten Mal von Kindern und Enkelkindern gesichtet werden. Aufräumarbeit und Sichtung der Bestände: Da finden sich Namen wie Reinhold Schneider, Agnes Miegel, Albrecht Goes oder Edzard Schaper (1908-1984), der heute gerade noch als Autor der Legende vom vierten König in Erinnerung geblieben ist. Sein Roman „Die sterbende Kirche“ (1936) über die russische orthodoxe Kirche unter dem großen Terror Stalins ist von erschreckender Aktualität. Denn er beschreibt das Martyrium der Kirche auf dem Weg zur kleinen Schar einer Katakombenkirche.

Das Verdrängte oder Vergessene, das unter der damnatio memoriae einer neuen Zeit selbstherrlich als unzeitgemäß, überwunden und überholt Ausgesonderte bewegt mich. Vieles ist wert, dass es vergessen bleibt. Aber es gibt auch jene Saat, die wie das Weizenkorn im Winter ruht, bis ihre Zeit gekommen ist. Der Biograf mag für diesen neuen Frühling ein gewisses Gespür haben. Er muss es auch, wenn er den Markt bedienen will. Der große Mensch aber braucht keine medialen Inszenierungen. Er ist zu jeder Zeit im Verborgenen präsent. Verkaufsränge oder Bestsellerlisten sind für ihn kein Maßstab, denn sie bezeugen nur, was der jeweilige Zeitgeist nicht sehen kann, weil ihm die Augen gehalten sind.

Mich interessierte das Leben Edzard Schapers, weil ein Ruf an mich erging. Das klingt vielleicht befremdlich, berührt aber den Kern allen biografischen Schreibens. Von den Heiligen bezeugte Walter Nigg, dass sie aus dem Himmel in die Welt hineinwirken. Warum sollen nicht auch die großen Menschen ihre Biografen berufen? Findet sich da Gleiches zu Gleichem? Die Psychologie und Spiritualität des biografischen Schreibens ist noch völlig unerforscht.

Warum bewegte mich die Biografie Edzard Schapers, der von Hitler und Stalin zum Tode verurteilt wurde, nach Schweden flüchtete und dort als vermeintlicher Doppelagent inhaftiert wurde? Was ich suchte, war die Kunst in den Grenzsituationen eines gebrochenen Lebens zu überleben. Was ich entdeckte, war der Weg eines Pilgers, der schließlich seine Heimat in der katholischen Kirche fand.

Edzard Schaper interessierte mich auch deshalb, weil bisher niemand über ihn geschrieben hatte. Mich beflügelte das Abenteuer der Erstbegehung einer geistigen Landschaft. Auf gut Glück, aber nicht ohne Spürsinn, fuhr ich auf den Spuren Edzard Schapers nach Estland, Finnland, Schweden, Dänemark und in die Schweiz. In Helsinki traf ich Olli Lehto, Biograf des Mathematikers Rolf Nevanlinna, der zu Schapers engen Freunden gehörte. Von ihrem Briefwechsel konnte ich nichts wissen, denn er lagerte unerschlossen und nicht einmal registriert in den Archiven der Universitätsbibliothek. Olli Lehto führte mich durch die Lesesäle. Wir standen vor dem Reenpää-Zimmer. Es enthielt die Sammlung aller frühen in finnischer Sprache erschienenen Bücher, die der Verleger des Otava Verlages gesammelt hatte. Da stand Heikki Reenpää plötzlich vor mir. In jungen Jahren hatte er für die Befreiung Kareliens gekämpft.

Olli Lehto stellte mich als Biograf Edzard Schapers vor. Daraufhin klopfte sich Heikki Reenpää an die Brust und sagte auf Deutsch: „An dieser Brust hat Edzard Schaper geweint!“ Dann erzählte er von seiner Freundschaft mit dem aus Estland geflohenen Schriftsteller, wie sie in der finnischen Sauna „gesoffen“ und darüber diskutiert hatten, ob der estnische oder der finnische Wodka besser sei. Zum Abschied versprach er mir eine Kopie seines Briefwechsels mit Schaper. Unverhoffte Begegnungen dieser Art erlebte ich viele beim Schreiben der Biografie. Ich nahm sie als Fügungen an.

Noch bewegender als das abenteuerliche Leben Edzard Schapers war für mich die Erfahrung, dass ich es schreibend ins Licht heben konnte. Das Leben dieses Großen schrieb sich in mein Leben hinein. So entstand die Biografie „Der vierte König lebt! Edzard Schaper - Dichter des 20. Jahrhunderts“ (Aschendorff Verlag 2021).

Vielleicht ist der Himmel voller Biografien. Denn jeder Mensch hat seine eigene Lebensgeschichte. Sie geht nicht verloren, weil sie aufgezeichnet wurde im Buch des Lebens. Engel, so überliefert es die Tradition, führen diese Bücher des Lebens („liber vitae“). Am Jüngsten Tag werden sie aufgeschlagen, wie es das „Dies irae“ des Thomas von Celano bezeugt. Dieser Tag der Offenbarung des gelebten Lebens vor Gott ist ein Moment des heilsamen Schreckens und damit der Aufrichtung des Menschen. Vor dem Licht der Liebe werden die labyrinthischen Pfade seines Lebens durchsichtig. Eine gute Biografie hat etwas vom Glanz des Himmels, gerade dann, wenn sie die Dunkelheiten des gelebten Lebens nicht ausblendet.