„Pollen der blühenden Gottheit“
Rilke vollendet die „Duineser Elegien“

 

 

 

Literarisches Schreiben ist wie alle Kulturtechniken grundsätzlich lernbar. Sonst wäre ein Seminar für Literaturwissenschaft und literarisches Schreiben sinnlos und der Unterricht verschwendete Zeit. Doch ergeben Sprachgefühl und hoher Wortschatz, kompositorische Begabung und die Fähigkeit, Charaktere zu zeichnen, noch keinen „Malte“; Reim, Rhythmus, Versmaß und Metapher noch keine „Duineser Elegien“. Zur lern- und lehrbaren Seite des literarischen Schreibens tritt etwas Entscheidendes hinzu: Die Gunst der Stunde, in dem eine Begabung plötzlich Erfüllung findet und das rechte Wort zur richtigen Zeit gesprochen wird. Daher rührt die Freude des Gelingens, das Staunen und die Dankbarkeit. Sie ergreift auch den Lehrer. Der unverfügbare Augenblick hat eine Kehrseite: Zum Reden gehört das Verstummen, zum Kairos die ausbleibende Inspiration, zum Gelingen das Versagen, zum großen Wurf das Banale und Periphere, zum Vollendeten das Fragment.

In dieser Spannung befindet sich Rainer Maria Rilke (1875-1926), als er sich auf Schloss Duino zurückzieht. Hier weilt er vom 22. Oktober 1911 bis zum 9. Mai 1912 als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (1855-1934). Rilke suchte neue Inspirationen an einem Ort, der nach der Überlieferung schon Dante Zuflucht geboten hatte. Der Dante-Felsen erinnerte an jenen Dichter, der die alte Lehre von den neun Chören der Engel in seiner „Göttlichen Komödie“ beschworen hatte. Gemeinsam mit der zwanzig Jahre älteren Fürstin widmete sich Rilke der Dante-Lektüre und übersetzte die „Vita nuova“. Dante inspirierte die Fürstin auch zu jenem Titel eines „Dottor Serafico“ oder „Serafico“ (der Engelgleiche), mit dem sie Rilke anredete. Im höchsten Chor der Engel sitzen die sechsflügeligen Seraphim. Sie sind die Mittler zwischen den Propheten und Gott (Jesaja 6.1-7). Ihr Gesang ist das Trishagion. Ihr Name gibt ihre Funktion an: „Entflammer“ oder „Erhitzer“ zur reinen Liebe. Franz von Assisi trug den Titel eines seraphischen Heiligen, weil er der Legende nach von einem sechsflügeligen Seraphim die Stigmata erhalten hatte.

Kennengelernt hatten sich Rilke und die Fürstin im Dezember 1909 in Paris. Im April 1910 besuchte Rilke zum ersten Mal Duino, diesen Ort des kulturellen Gedächtnisses. Im Herbst 1911 zählt zu den weiteren Gästen der Fürstin der Philosoph Rudolf Kassner (1873-1959). Ihm wird er die achte Elegie zueignen, der Fürstin aber das gesamte Werk der zehn Elegien mit seinen 853 Versen. Schon vor den Elegien war der Engel ein immer wiederkehrendes Motiv in Rilkes Werk gewesen. Rilke war in einem katholischen Kulturkreis aufgewachsen, in dem die Heiligen, die Muttergottes und die Engel den Alltag strukturierten. Wichtiger als die Geburtstage waren hier die Namenstage mit ihrem Gedenken des Schutzpatrons, das Kirchenjahr mit den religiösen Festen im Familienkreis und der feierlichen Liturgie der katholischen Messe. Selbstverständliches Ritual war auch das Gebet zu den Heiligen und den Engeln. Rilke war zwar, was seine Mutter nie erfahren sollte, als er die norddeutsche Protestantin Clara Westhoff (1878-1954) heiratete, aus der katholischen Kirche ausgetreten, aber er blieb doch Katholik. Einen Teil des Honorars für die in einer Erstauflage von 10000 Exemplaren erscheinenden „Duineser Elegien“ wird er für die Renovierung der kleinen St. Anna Kapelle neben dem Turm von Muzot verwenden.

 

 

 

Rilke befand sich in einer desolaten Lage. Seine Ehe mit Clara Westhoff ist gescheitert. Um die gemeinsame Tochter Ruth kümmern sich die Schwiegereltern. Rilke hat sich nach dem „Malte“ ausgeschrieben. Er klagt über Gedächtnisschwäche, Zahnschmerzen nervöser Art, Migräne, Hämorrhoiden, Wetterfühligkeit, ein übertriebenes Schlafbedürfnis. Deshalb hat er Kontakt zu dem Psychoanalytiker Emil Freiherr von Gebsattel (1883-1976) aufgenommen und erwägt eine Therapie, um die Schreibblockaden aufzulösen. Mit der alten Freundin Lou Andreas-Salome hatte er zwei Mal Russland besucht. Nun war das Verhältnis unterkühlt. Lou machte eine Ausbildung zur Analytikerin bei Freud und rät Rilke entschieden von einer Therapie ab: Mit den Neurosen werde auch sein kreatives Potential wegtherapiert. Der Aufenthalt in Duino soll die Rahmenbedingungen für neue Inspirationen schaffen. Literarisches Schreiben sei für ihn eine Form der „Selbstbehandlung“, bekundet Rilke gegenüber Emil von Gebsattel und Lou Andreas-Salomé. Schreiben hat eine therapeutische Funktion. Worin diese besteht, darauf werden die Duineser Elegien eine Antwort geben: Die Verwandlung der Welt in „ein erworbenes Wort“.

 

„Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster,-
Höchstens: Säule, Turm ... aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie die Dinge niemals
innig meinten zu sein.
(...)
Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.
Sprich und bekenn.“
(IX. Elegie)

 

Im Dezember 1911 beginnt auf Duino eine Inszenierung, wie Rilke sie als Stimulanz brauchte: Zuerst wird für ihn ein Stehpult angefertigt, dann werden Möbel verrückt und Bilder umgehängt, ein Pavillon im Garten wird zuerst umständlich eingerichtet, dann aber doch nicht bezogen. Schließlich logiert er in einem großen Eckzimmer des Schlosses. Durch die Fenster schaut er auf das Meer: links in Richtung Triest und Istrien, rechts bis nach Aquileja und zu den Lagunen von Grado. Doch neben der sichtbaren Welt existiert hier oben auf Duino ein unsichtbares Reich der Geister, für das Rilke sehr empfänglich ist. Seinem Malte erscheint die längst verstorbene Christine Brahe. Auf Duino geistern Raymondine und die mit fünfzehn Jahren gestorbene Polyxène durch die Räume. Auf okkulten Sitzungen wird mit Hilfe der Technik des automatischen Schreibens ihre Gegenwart beschworen. Gemeinsam mit der Fürstin, sie war langjähriges Mitglied der Londoner Society of Psychical Research, und ihrem Sohn Alexander (Pascha) werden Séancen abgehalten. Die in jungen Jahren verstorbenen Frauen gehören zu jenen „Früheentrückten“, von denen die zweite Elegie spricht. Für Engel sind sie wie die Lebenden reale Gegenwart:

 

„Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.
Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehen oder Toten. Die ewige Strömung
reißt durch beide Bereiche alle Alter
immer mit sich und übertönt sie in beiden.“

 

Die Haushälterin Miß Greenham wird in Rilkes vegetarische Diätwünsche eingewiesen, der Diener Carlo bedient den Dichter in einem Esszimmer. Er ist angewiesen, den allein speisenden Dichter mit keinem Wort anzusprechen. Die Weihnachtstage verbringt Rilke auf eigenen Wunsch allein mit dem Personal. Zwischen dem 15. und 23. Januar 1912 entstehen die Gedichte des „Marien-Leben“. In Marias Begegnung mit dem Engel Gabriel spürt Rainer Maria Rilke jenem Unverfügbaren nach, aus dem neues Leben und neue Dichtung entsteht. Maria, deren Namen Rilke trägt, verkörpert Rilkes Selbstverständnis eines inspirierten Dichters, der „Schoss“ und „Gefäß“ sein will. Inmitten der Arbeit am „Marien-Leben“ wird dem Dichter die erste Elegie geschenkt. Nach dem Bericht der Fürstin stieg Rilke die steilen Treppen 200 Meter tief zum Meer hinunter. Die Sonne schien, das Meer leuchtete blau, eine heftige Bora wehte.

 

„Da, auf einmal, mitten in seinem Grübeln, blieb er stehen, plötzlich, denn es war ihm, als ob im Brausen des Sturmes eine Stimme ihm zugerufen hätte:
‚Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?’“

Rilke habe die Verse in sein Notizbuch notiert und am Abend die erste Elegie niedergeschrieben. In ihr spiegelt sich das Erlebnis der Inspiration wieder:

„Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf
aufhob vom Boden (...) Aber das Wehende höre,
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.“

 

Wenige Tage später entstehen die zweite Elegie und der Beginn der zehnten. Damit stand das Gerüst zum Bau einer Dichtung, deren Vollendung trotz aller Bemühungen in den kommenden zehn Jahren nicht gelingen wollte. Die Elegie ist ein Klagegesang, der in der deutschen Literatur bei Friedrich Hölderlin und Goethe einen Höhepunkt erreicht hatte, an dem gemessen zu werden jeder Dichter riskierte, der sich im frühen 20. Jahrhundert an diese Gattung wagte. Hat die Elegie in den Psalmen und in den Eingangsversen des Kyrie eleison der Liturgie einen göttlichen Adressaten, so markiert der doppelte Konjunktiv II der berühmten Eröffnungsverse einen Traditionsbruch. Die Existenz einer unsichtbaren Welt „der Engel Ordnungen“ wird nicht infrage gestellt. Die Engel bilden eine Welt für sich, ein Paralleluniversum, eine geschlossene Gesellschaft. Jede Kommunikation mit ihnen scheint unmöglich geworden zu sein. Wie die Götter Epikurs interessieren sie sich nicht für das Schicksal der Menschen. Im Irrealis der Melancholie, im „Lockruf dunkelen Schluchzens“, wird von einer zweifachen Unmöglichkeit der Kommunikation gesprochen: Die Engel hören nicht auf den Anruf des Menschen und selbst wenn sie reagierten, so käme eine Begegnung dennoch nicht zustande: „und gesetzt selbst, es nähme/ einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem/ stärkeren Dasein.“ Der Gesang der Engel ist das Trishagion, jenes „heilig, heilig, heilig“, das während der Liturgie vor der Wandlung zitiert wird. Das Heilige aber ist das mysterium tremendum et fascinosum schlechthin. Wenn es erklingt, dann beben die Stufen des Altars, Knie und Haupt werden ehrfürchtig vor Gottes Gegenwart gebeugt. Der Engel bezeugt dieses „stärkere Dasein“. Wo es erscheint, ergreifen den Menschen Furcht und Zittern. Der jüdische Prophet Jesaja schreit „Weh mir, ich vergehe“, Mohammed versucht den Auftrag Gabriels abzuwehren. „Fürchte dich nicht!“ lautet daher die himmlische Entwarnungsformel, die Gabriel zu Maria spricht. Diese erschütternde Erfahrung des Heiligen hat Rilke treffend beschrieben, wenn es heißt: „Ein jeder Engel ist schrecklich.“ Als einziger Vers der gesamten Elegien wird er zu Beginn der zweiten Elegie wörtlich wiederholt: „Jeder Engel ist schrecklich.“ Deshalb konnte Rilke auch später gegenüber seinem polnischen Übersetzer betonen, dass die Engel der Elegien nichts gemein haben mit dem sentimentalen Engelkitsch einer katholischen Volksfrömmigkeit. Abschied genommen wird auch von der seit Kindheit vertrauten Gestalt des Schutzengels, die Rilke in vielen seiner Gedichte beschworen hat.

Das Buch Tobit hat mit der Pubertätsparabel von Tobit (Tobias) und dem Engel Raphael die Urform aller Legenden vom Schutzengel geschaffen. Es erzählt den Weg ins Leben, bei dem der junge Tobit sich in verschiedenen Schlüsselsituationen bewähren muss. Auf dieser Reise ins Leben steht ihm Raphael zur Seite. Er wahrt das Geheimnis seiner Identität, indem er eine menschliche Gestalt angenommen hat und somit inkognito reist. Alle Engelgeschichten von der unsichtbaren Gegenwart himmlischer Geister basieren auf diesem Grundtext der jüdischen Überlieferung. Er ist von bildenden Künstlern reich rezipiert worden und hat besonders durch Rembrandts lebenslange Beschäftigung mit diesem Motiv das Bild vom Schutzengel entscheidend geprägt. Kein Buch der Bibel hat Rembrandt so reich illustriert wie das Buch Tobit. In der lutherischen Tradition zählt das Buch Tobit zu den Apokyrphen, die Rilke während der Arbeit an den Elegien erneut studiert. Diese Lektüre findet ihren Widerhall in der Klage um den Verlust jenes Glaubens an die unsichtbare Anwesenheit der Schutzengel.

 

„Wohin sind die Tage Tobiae,
da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür,
zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar;
(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah).
Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen
eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-
schlagend erschlüg uns das Herz.“ (II. Elegie)

 


Die Tage Tobiae aber sind vorbei. Die Engel der Elegien sind Boten des Heiligen. Dieses Heilige aber ist Ausdruck der Herrlichkeit einer himmlischen Hierarchie. Wo sie sichtbar wird, verblasst nicht nur jeder irdische Glanz, wer diese Schönheit angeschaut mit Augen, der fühlt sich in seinem innersten Wesenskern erschüttert. „Denn das Schöne ist nichts/ als des Schrecklichen Anfang“.

Die Lehre von den himmlischen Hierarchien geht auf den christlichen Mystiker Dionysios von Areopagita zurück. Unter dem Einfluss der Philosophie Plotins (204/5-270) systematisierte er die verstreuten Aussagen der Bibel über die Engelwelt. Dabei ließ er sich von jenem Schema der Enneaden (Neunergruppen) anregen, nach dem Porphyrius die überlieferten Texte seines Lehrers Plotin gliederte. In einer stufenweisen Ordnung umkreisen die neun Chöre der Engel das Geheimnis der unsagbaren göttlichen Mitte, das sich wiederum nach neuplatonischem Muster durch die einzelnen Stufen der Engel ergießt, ohne sich in ihnen zu verlieren. In jedem Engel spiegelt sich das Schöpferische in einmaliger Weise. Die ästhetische Theologie des Areopagiten ist „die konzentrische Ordnung von Himmel und Erde, Engel und Mensch im Preisgesang um den Thron des Unsichtbaren: Wort, das sich in immer breiterem Widerhall fortsetzt, rings um die Mitte des Schweigens; Klang rings um die wesenhafte, unzugänglich verborgene Stille.“ Sie „erschöpft sich im Akt bewundernder Anbetung vor der in aller Erscheinung unerforschlichen Schönheit.“ Diese ästhetische Wahrheit „kann nur durch Eintritt in die Bewegung mitvollzogen werden: wer die Schönheit nicht sieht, dem ist durch Erläuterungen nicht zu helfen; wer nicht sehen kann, was in der Welt erscheint, dem nützt kein ‚Gottesbeweis’, wem die Wahrheit nicht ‚einleuchtet’, die aus der Mitte der Theologie ausstrahlt, dem wird keine Apologetik weiterhelfen.“ Für Dionysios von Areopagita ist alle Theologie eine „rühmende Feier der Gottesgeheimnisse“, die „ihr Ur- und Vorbild in den liturgischen Gesängen des Himmels besitzt“. Seine Engellehre hatte eine beispiellose Prägekraft als „evidente, verwirklichte Synthese von Wahrheit und Schönheit, von Theologie und Ästhetik“. Davon zeugt nicht zuletzt Hugo Balls Hymnus auf den Areopagiten und die orthodoxe Theologie, der zeitgleich mit den Duineser Elegien entsteht.

Rilkes Elegien beschreiben den Weg zur Erfahrung dieser Herrlichkeit durch Teilhabe am Rühmen. „Wer seid ihr?“ (II. Elegie) In kühnen Metaphern umkreist der Dichter das Wesen des Engels und folgt dabei der seit Augustin gängigen Auffassung von der Engelwelt als erstem Schöpfungswerk Gottes. Vor der Erschaffung der sichtbaren Welt der Menschen, Tiere und Pflanzen hat Gott die unsichtbare Welt der Engel durch das Wort ins Leben gerufen:

 

„Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung,
Höhenzüge, morgenrötliche Grate
aller Erschaffung, - Pollen der blühenden Gottheit,
Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne,
Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte
stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln,
Spiegel: die die entströmende eigene Schönheit
wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.“

 

Mensch und Engel bilden in Augustins Gottesstaat eine Einheit. Sind die Engel der stationäre Teil des Gottesstaates, so gehört der Mensch zum pilgernden Teil. Die Einheit beider Teile aber wird in der Liturgie erfahrbar. Der Engel spricht und bekennt Gott im immerwährenden Lobpreis. In diesen Lobpreis stimmt der Mensch mit dem Gloria und dem Sanctus ein. „Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter“ (Sonette I. Nr. VII) wird Rilke nach Vollendung der Elegien in seinen Sonetten an Orpheus schreiben. Mensch und Engel bilden eine hymnologische Gemeinschaft. Die Welt ist Klang, die Welt ist Sprache: Der Gott der Genesis ruft allein durch sein Wort eine Welt ins Leben. An diesem Schöpfertum haben Mensch und Engel Anteil. Rilkes Elegien beginnen mit der Klage um den Verlust dieser hymnologischen Einheit, um sie sich schreibend wieder anzueignen mit einer „Zunge/ zwischen den Zähnen, die doch,/ dennoch, die preisende bleibt.“ (IX. Elegie)

 

 

Hierarchie bedeutet heilige unerschütterliche Ordnung. In ihr hat jeder seinen Ort und seine Stimme. Und jeder erfüllt auf seine Weise das „Sprich und bekenn“. Die Chöre der Engel sind das Bild dieser Einheit in der Vielzahl der Stimmen. Vor diesem Urbild einer theologischen Ästhetik entfalten die Elegien zuerst das Drama der flüchtigen menschlichen Existenz. Nach langen Klagen über die Flüchtigkeit des Lebens und der Gefühle wird es gipfeln in dem Bekenntnis der siebten Elegie, dem Preislied der Erde: „Hiersein ist herrlich“. Diese Herrlichkeit des Lebens schließt alle Dunkelheiten des Lebens mit ein. Wie die Engel, so wird auch der Dichter zum Rühmenden. Das literarische Schreiben hat viele Dimensionen und Formen. Es erschöpft sich nicht in der Mitteilung, nicht in der Formgebung, auch nicht in einer möglichen selbsttherapeutischen Funktion. Es ist Daseinsbekundung, ein Akt kultureller Selbstbehauptung, der mit dem Menschsein selbst gegeben ist. Der Mensch spricht nicht nur, er ist Sprache. Zu sprechen und damit seine Existenz zu bekennen ist der Sinn seiner Existenz. Dieses Sprechen weist über das Sichtbare hinaus, verwandelt es, spiegelt es zurück. Worum es in den Elegien geht, ist die Verankerung der eigenen dichterischen Berufung und über sie hinaus der gesamten Kultur in einem transzendenten Prinzip. Dass sich der Geist in der Kunst offenbart, ist die Grundannahme jeder idealistischen Ästhetik. Rilkes Ästhetik des Rühmens als innerweltliche ästhetische Transzendenz findet in dem Lobpreis der Engel ihr himmlisches Vorbild.


Der Engel ist Adressat der Elegien. Er wird nicht mehr als Begleiter beschworen, der in der Immanenz erscheint und den Menschen durchs Leben führt. „Glaub nicht, dass ich werbe./ Engel, würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein/ Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke/ Strömung kannst du nicht schreiten.“ (VII. Elegie) Der Mensch begegnet jetzt dem Engel mit neuem Selbstbewusstsein auf gleicher Höhe, indem er der Erde treu bleibt. Er preist dem Engel die Welt, er rühmt das Vergängliche. Kultur schafft Gedächtnis. Zu ihr gehört auch das Handwerk, von dem Rilke in Erinnerung an seine Reisen nach Rom und Ägypten spricht:

 

„Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,
wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig
ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest
bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.“

 

Das Wesen des kulturellen Gedächtnisses ist die Memoria. Durch sie schafft der Mensch eine eigene geistige Welt und stellt sie - das ist die Perspektive der Elegien – komplementär zu der geistigen Welt der Engel. Die Kulturgeschichte ist voller Beispiele für die Erfahrung, dass gerade im Zusammenbruch die großen Schöpfungen der Menschheit entstehen: Das gilt für die Sagen der Antike, die Schöpfungsberichte der Genesis, die Evangelien des Neuen Testaments, die Weisheit des Talmud, Augustins Gottestaat, Benedikts Klostergründung, die Märchen der Grimms bis zu Erich Auerbachs „Mimesis“, mit dem der jüdische Gelehrte im Istanbuler Exil ohne Zugriff auf wissenschaftliche Bibliotheken den Kreis der abendländischen Literatur durchschreitet. Es gilt auch für jene deutschen Gelehrten, die ein Jahrzehnt der Arbeit in den russischen Steinbrüchen überstanden, weil sie aus der geistigen Welt der auswendig gelernten Gedichte lebten und diese auf den Mundstücken der Zigaretten in Miniaturschrift überlebten.


„Und diese, vom Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbaren Herzen verwandeln
in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
ins uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Erde du, du liebe, ich will.“

 

Damit ist auch die Frage nach dem Adressaten der Elegien geklärt. Die Elegien sind ein Gebet. Es richtet sich an den Engel. Wer, wenn nicht sie, versteht etwas von der besonderen Stellung des Menschen im Kosmos? Wer, wenn nicht sie, kann das Glück der Erfahrung einer inneren Welt nachvollziehen? Wer, wenn nicht sie, kennt das überzählige Dasein, das dem Herzen entspringt (IX. Elegie) und nach Ausdruck verlangt? Die Elegien preisen den Raum der Kultur als ein unendliches und unerschöpfliches inneres Universum. Sie rufen die Engel als Zeugen der menschlichen Selbsttranszendierung in der Musik und in den Kathedralen, jenen großen aus Stein errichteten Gleichnissen des Himmels, an:

 

„War es nicht Wunder? O staune, Engel, denn wir sinds,
wir, o du Großer, erzähls, dass wir solches vermochten, mein Atem
reicht für die Rühmung nicht aus. So haben wir dennoch
nicht die Räume versäumt, diese gewährenden, diese
unseren Räume. (Was müssen sie fürchterlich groß sein,
da sie Jahrtausende nicht unseres Fühlns überfülln.)
Aber ein Turm war groß, nicht wahr? O Engel, er war es,-
Groß auch noch neben dir? Chartres war groß-, und Musik
Reichte noch weiter hinan und überstieg uns. Doch selbst nur
Eine Liebende-, oh, allein am nächtlichen Fenster...
reichte sie dir nicht ans Knie?“ (VII. Elegie)

 

Wem soll der Engel von diesen Wundern erzählen? Wunder, staunen, rühmen, lieben -: mit diesem Wortfeld der Herrlichkeit hat sich Rilke zu jener hymnischen Höhe emporgeschwunden, auf der der Mensch nun zum Mitsänger unter den Chören der Engel wird. Die hymnologische Einheit von Mensch und Engel, wie sie in der katholischen Liturgie gefeiert wird, findet ihr dichterisches Spiegelbild in der letzten Elegie. Ihre Eingangsverse wurden bereits im Januar 1912 niedergeschrieben. Sie sprechen eine Bitte aus, dass sich Mensch und Engel dereinst zu einer hymnologischen Gemeinschaft vereinen:

 

„Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.“

Das von Dionysios über Dante vermittelte Bild der neun Hierarchien erfährt hier eine Ergänzung durch den zehnten Chor, der einst mit den Stimmen der Menschen besetzt werden wird. Die Lehre vom zehnten Engelchor spielte in den eschatologischen Bildern mittelalterlicher Dichtung wie etwa Wolframs Legende „Willehalm“ (308,5) eine Rolle. Ob Rilke sie gekannt hat, ist nicht zu klären und letztlich auch unerheblich.

 

 

 

 

Vollendet wurden die Elegien auf Château Muzot nach einer ähnlichen Inszenierung, wie damals auf dem nun durch den Krieg zerstörten Duino. Nanny Wunderly-Volkart (1878-1962), musste ihren Cousin aus Winterthur, den Industriellen und Mäzen Werner Reinhardt nicht lange überreden, um den Turm von Muzot samt des Hausgespenstes Isabelle de Chevron zu kaufen und nach Rilkes Bedürfnissen ausbauen zu lassen. Rilkes „Nike“ und seine zahlreichen weiteren Gönnerinnen, Freundinnen und Geliebten teilten das Selbstverständnis dieses Dichters, der sich als ein „zum Rühmen Bestellter“ zugleich als von jeder Sorge um den finanziellen Unterhalt seines Lebens befreiter Sänger verstand. Die Engel der Elegien sind auch das Urbild einer aller materiellen Sorgen enthobenen Dichterexistenz, wie sie Rilke seit je für sich reklamierte. Der Dichter singt wie der Engel: das ist seine Bestimmung und der Sinn seines Hierseins. Für die Ökonomie des Lebens sorgt der Mäzen.

Selbstverständlich wird mit Frida Baumgartner aus dem Kanton Solothurn, „einem stillen fleißigen jungen Mädchen, mit der ich nicht zehn Worte spreche in der ganzen Woche“ eine Haushälterin eingestellt. Er wohne nun, berichtet Rilke seiner Mutter, „im katholischsten Kanton der Schweiz nach etwa dem von Fribourg. Die alten Kirchen sind wunderbar und da sich hier überhaupt viel alte Überlieferung unter den überaus armen und hart arbeitenden Bauern erhält und fortsetzt, so sind auch die kirchlichen Traditionen im Volk sehr wirksam geblieben. Steigt man von Sierre nach meinem alten Muzot herauf, so ist jede Wegkreuzung durch ein großes Missionskreuz bezeichnet-, und zum Schlößchen Muzot selbst gehört durch die Jahrhunderte ein kleines Kirchlein, die alte St. Annakapelle“. Rilke besitzt den Schlüssel zu der kleinen St. Anna-Kapelle. In den Weihnachtstagen schmückt er selber den Altar mit Christrosen und hält die Kapelle mit Kerzen festlich erleuchtet.

Zwischen dem 7. und 14. Februar 1922 eignen sich dann die produktivsten Tage in Rilkes Leben. In einem Schwung werden die Elegien und die 50 Sonette an Orpheus vollendet. In den Briefen an die Freundinnen verwendet Rilke durchgängig ein religiöses Vokabular: „Freude und Wunder“, „Dank“ und „Amen“ heißt es immer wieder, „unaussprechliche Gnade“, „ein großes gewaltiges Gebet“, „Wunder. Gnade“. Unter den Freundinnen ist es vor allen Dingen Lou Andreas-Salomé, die in diesen hohen Koloraturen virtuos mitsingen kann. Sie wählt den denkbar höchsten aller Vergleich, wenn sie das Werk der Elegien als „Wort gewordene Unaussprechlichkeit“ und „Urtext der Seele“ mit der Gottesgeburt vergleicht: „Möglich wohl, daß eine Reaktion eintritt, weil das Geschöpf den Schöpfer aushalten mußte, dann laß Dich davon nicht erschrecken (so fühlten sich auch die Marien nach der ihrem Zimmermann unfaßlichen Geburt.)“

Das Weihnachtsmysterium steht auch im Mittelpunkt jenes Briefes an die Mutter, den Rilke der Sendung seiner Elegien und der Sonette beilegt. Rilke hat ein widersprüchliches Bild von seinen ersten Lebensjahren und dem Verhältnis zu seiner Mutter überliefert. Neben der Klage über die Kleider, die Sophia Rilke ihrem Sohn anzog („Kindheit“ Winter 1905/6) steht die dankbare Erinnerung an diese kindlichen Rituale der Verkleidung und Inszenierung als Weihnachtsengel: „Kommt doch alles Lichte meiner Kindheit in jenen glücklichen Abenden zusammen, da man, in dem schönen Kleide, gleichsam den Engeln verschwistert war und sich zwischen ihnen und der übrigen Welt auf einer schwebenden Insel erhielt, zu der einen Leichtigkeit des eigenen Herzens hinaufgehoben hatte.“

Jedes Jahr erfüllten die adventlichen Rituale im Familienkreis und der geschmückte Baum hinter der verschlossenen Tür das Kind mit einer großen Vorfreude. „Vielleicht bin ich deshalb, meine liebe Mama, ein solcher Rühmer der Freude geworden (sie dem Glück, auch noch dem, was die Menschen ein großes Glück nennen, unbedenklich vorziehend), weil ihr mich zu so großer Vorfreude erzogen habt und an diesem einen Tag, in dem so viel Erfüllung geheimnisvoll zusammenkam, meinem Herzen zumuthet, in der Leistung der Vorfreude, ein Maß der Freude anzunehmen, das völlig unaussprechlich war. (...) In diesem Sinne lies auch meine beiden neuen Bücher, die Arbeiten meines vorletzten, (des ersten) Muzot-Winters: als einen Versuch, irgendwie Leben und Tod in einer übergroßen Freude, die ohne Namen bleibt, zusammenzufassen und alles, was hier geschieht, so auszusprechen, daß es sich feiern läßt, wie eine Vorfreude, um des Zitterns, um der Erwartung, um des Geheimnisses willen. Amen! Und so knieen wir wieder nebeneinander, liebe Mama, und erkennen die eine Quelle des Segens, und bitten, gesegnet zu sein. Dein alter René.“


Das Reich des Geistes, von dem Rilke in den Elegien spricht, bildet die Grundlage allen Menschseins. Aus ihm leben die Kulturen, die der Mensch seit seinem Hervortreten aus der Evolution in Vers und Stein, Bild und Flötenlied geschaffen hat. Gerade die moderne Welt macht uns in der Vielfalt der Kulturen bewusst, was Kultur im eigentlichen Sinne ist: Ein Verwurzeltsein des Lebens im lebendigen Strom einer Überlieferung, die sich in jedem Leben neu spiegelt und in tausend Farben bricht. Zum Wesen jeder Kultur gehört, dass sie der Vermittlung bedarf. Sie vererbt sich nicht genetisch von Generation zu Generation, sondern wird durch die Erziehung weitergegeben. Der Acker der Kultur, von dem die Genesis spricht, will von jeder Generation neu bebaut und bewahrt werden.

Die Philosophie Platons und Nietzsches, Goethes Faust und Thomas Manns Josephroman, die Welt der Symbole und die Musik von Bach sind wie alle großen Hervorbringungen des Geistes uns zur Überlieferung anvertraut. In dieser pädagogischen Aufgabe und Herausforderung stehen auch die Arbeit am kollektiven Gedächtnis, zu der jene Kulturwissenschaft auf ihre Weise einen Betrag leistet. „Aus einem gemeinsamen Wort- und Schriftgedächtnis lebt auch unsere ihm gewidmete, Orte und Länder und Kontinente übergreifende akademische Gemeinschaft, die kein Interesse vertritt als nur ihre humane Sache.“ (Friedrich Ohly)