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»Die Türken halten die Sternschnuppen für Feuerbrände,
welche die Engel auf die Teufel werfen, die den Himmel ersteigen wollen.«
(Nachlass Jean Paul,
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Fasz. IIa, Bd.1, 1782, S.71).
*
"Man könnte meinen, es ist an der Zeit, über den Teufel zu schreiben.
Über das Böse in der Welt mit Putin und Trump darin,
mit Krieg in der Ukraine, im Gaza-Streifen, im Sudan,
mit Gewalt und Anschlägen auch in Deutschland.
Die kleine Kulturgeschichte des Teufels mit dem Titel
'Der Gefallene Engel' von Uwe Wolff ist jedoch eine logische
Folge der Arbeit des Engelforschers und Theologen.
Zwei Jahre arbeitete er an dem Buch, von dem er schon
seit 40 Jahren wusste, dass er es eines Tages schreiben würde.
Nun ist es erschienen."
Andrea Hempen
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"Uwe Wolffs großartiges Werk ruft uns auch Voltaire ins Gedächtnis, der vieles war, nur kein Atheist: 'Der Satan! Dies ist das ganze Christentum, kein Satan, kein Heiland!'"
Werner Olles
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Die Welt ist wunderbar im Ganzen. Doch bekommt auch „des Chaos wunderlicher Sohn“ (Faust 1384) sein Recht. Satan ist das große NEIN! Gegen ihn helfen nicht die Brandmauern der Aufklärung und ihres optimistischen Menschenbildes. Seiner Fundamentalopposition ist weder mit gutem Zureden noch mit Drohungen beizukommen. Wie konnte der schönste aller Engel Gott den Rücken kehren? Woher der Haß und die Unversöhnlichkeit? Kann und will der gefallene Engel überhaupt erlöst werden?
Die Kirche hat den Teufel abgeschafft. So treibt er auf synodalen Irrwegen des Zeitgeistes sein Unwesen. Auch eine Kulturgeschichte des Teufels wird das Geheimnis des Bösen nicht restlos klären können. Diese Meditation über die gefallenen Engel richtet den Blick auf Mächte und Gewalten, die sich jeder Integration und Inklusion widersetzen.
Menschen und Engel können fallen. So bekommt die alte Bitte des Vaterunsers „Erlöse uns von dem Bösen!“ einen lebensweltlichen Kontext. Die Geschichte des Teufels führt über den Horizont der sichtbaren Welt hinaus in die Ökologie des Himmels, in dem Mensch und Engel einst vereint sein werden. Die Lösung aller Rätsel des Lebens liegt jenseits der Zeitmauer.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Apostasie eines Engels S. 7
Geburt: Das verlorene Paradies
Quäle nie ein Tier zum Scherz S. 23 · Parzival S. 29 Vorgeburtlicher Streß S. 34 · Baum der Erkenntnis S. 44 Der eifersüchtige Teufel S. 51
Kindheit: Jenseits von Eden Grenzüberschreitungen S. 57 · Mißbrauch S. 65 Heile die Erde! S. 68 · Golo Mann: Gespenster S. 71 Julien Green: Der Teufel im Kleiderschrank S. 75 Margarete und der Drache S. 80 · Taufe und Teufelsaustreibung S. 85 · Hans Carossa: Teufelsbeweinungen S. 87 · Gnosis: Die verfehlte Schöpfung S. 91
Jugend: Rotes Reich der Illusionen
Der neue Mensch S. 101 · Die russische orthodoxe
Kirche S. 105 · Martin Andersen Nexø S. 108 · Oskar Maria Graf S. 115 · Arthur Koestler S. 118 · Maxim Gorki S. 124 Halldór Laxness S. 129 · »Retter der Welt, rette Rußland!« S. 131 · Sergej Bulgakov: Exil S. 137
Liebe: Den Wolf umarmen
Günter Grass: »Komm Satan, oh komm doch!« S. 143 Islamische Mystik S. 146 · Erich Fromm: Liebe ist möglich S. 150 · Jürgen Bartsch: Liebe und Mord S. 153 Judas: Opfer der Liebe? S. 156 · Brendan: Einen Tag Höllenurlaub S. 170 · Franz von Assisi: Wölfe und Lämmer S. 175
Berufung: Erwählung und Versuchung
Kirche in der Bedrängnis: Der Rauch des Satans S. 185 Martin Luther: Der altböse Feind S. 192 · Wüstenheilige S. 199 · Die Versuchung Jesu S. 210
Kampf: Teufelsaustreibungen
Sigmund Freud: Der Analytiker als Exorzist S. 217 Jesus treibt Dämonen aus: Eine Schweinebande S. 220 Jakob Michael Reinhold Lenz: Ein verlorener Sohn S. 226 · Mitten in Deutschland: Exorzismus und Terrorismus S. 235 · Anneliese Michel: Besessenheit oder Mißbrauch? S. 241
Vollendung: Überwindung der Todesfurcht
Immer – nimmer: Ewigkeit S. 265 · Himmel oder Hölle: Lazarus und der reiche Mann S. 272 · Will der Teufel erlöst werden? S. 278 · Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Erlösung de Teufels Abbadona S. 287 · Warlam Schalamow: »Jede Hölle kann zurückkommen« S. 295 Ernst Jünger: »Auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter« S. 301 · Das Wunder der Schöpfung S. 308 Pater Lampros: Die Geduld erreicht alles S. 31
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Dahinter leuchtet ein großes Licht!
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Rano Achunowa gründete die erste Waldorfschule in Tadschikistan.
Eine Deutschlehrerin in einem muslimischen Land russischer Prägung.
Engel kennen keine Grenzen.
Der Beruf führte mich ins östliche Niedersachsen, nicht weit entfernt von der Grenze zur DDR. Es war das Jahr 1987. Mit drei kleinen Kindern wohnte ich in dem Dorf Solschen zwischen Braunschweig und Hildesheim. In dieser Landschaft hatte Friedrich von Spee gewirkt, hier war er überfallen und schwer verwundet worden. Das Dorf besaß eine Kirche, in der 800 Gläubige bequem Platz gefunden hätten. Das Gotteshaus wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut und dem Heiligen Pancratius geweiht. Aus dieser Zeit stammten auch die emaillierten Schilder mit den Namen der Stifter. Sie markierten nun die leeren Sitzplätze.
Dieser Ort sollte für mich zu einer Erfahrung werden. Jeden Sonntag versammelte sich hier eine Gemeinde von fünf, manchmal zehn Gläubigen. Keine Ermunterung vermochte sie zu motivieren, gemeinsam in der ersten Bank Platz zu nehmen. Ein junger Organist spielte selbstverliebt sein Instrument. Vom Gesang der Gemeinde war nichts zu hören. Die Gläubigen senkten ihr Haupt, als hätte sie eine große Scham ergriffen. Eine an Erstickung grenzende Sprachnot breitete sich auch in anderen Gemeinden aus.
1985 hatte ich erste Erfahrungen als Religionslehrer an der Ursulaschule in Osnabrück gesammelt. Schulleiter war damals Pater Werinhard Einhorn OFM. Er hatte über das Einhorn in der Kunst des Mittelalters promoviert. Jeden Morgen wurde ein Gottesdienst gefeiert. Methodische Anregungen für die Gestaltung von Schulgottesdiensten gab es zuhauf. Aber schnell merkte ich bei der Lektüre dieser Arbeitshilfen, dass sie oftmals nur ein Ausdruck des Mangels eigener Frömmigkeit und inwendigen Lebens waren und sich deshalb in Äußerlichkeiten verloren. Schüler aber haben einen untrüglichen Blick für das Authentische.
Wer Gottesdienst feiern will, darf den Weg nach Innen nicht scheuen. Pater Werinhard war auch hier ein Lehrmeister. Einmal erzählte er von einer Unruhe, die ihn ergriffen hatte. Zur Vorbereitung einer Andacht suchte er in den Geschäften der Bischofsstadt Osnabrück nach einem Geige spielenden Engel. Er wollte ihn der Schulgemeinde zeigen, um anschaulich über das Gotteslob und die Musik der Engel zu predigen. Eine Firma aus dem Erzgebirge stellt jene Engel her, die zur Weihnachtszeit die Wohnzimmer schmücken. Engel dienen vielerorts als Nachfolger der Laren und Penaten. Sie dekorieren Wohn- und Schlafzimmer, sie schmücken Gräber und Gartenteiche. Aber fördern sie auch unseren Lobgesang? Pater Werinhard hatte damals seine Suche nach dem Engel des Lobpreises ohne Ergebnis abgebrochen. „Was suchst Du eigentlich?“, hatte er sich gefragt. „Warum brauchst Du einen singenden Engel, wo Du und Deine Schüler doch selbst singen können!“ Die kleine Geschichte wurde für mich zum ersten Schritt der Begegnung mit einem großen Geheimnis: Der wahre Gottesdienst beginnt im Herzen. Denn wie das Einhorn, so liebt Gott die Verborgenheit und die große Stille. Niemand vermag durch List und Gewalt das Einhorn zu fangen. Doch wer in seinem Herzen ganz stille wird und andächtig, zu dem kommt es und bettet zärtlich sein Haupt in den Schoß.
Gott ist ein stiller Gott. In meiner Dorfgemeinde aber war es beängstigend still. Deshalb sang ich besonders laut und dachte dabei an jene alten Männer in den Gottesdiensten meiner Kindheit. Einer genügte, der seine Stimme erhob, und ich fühlte mich sicher und geborgen.
An den Bänken der Solschener Kirche leuchteten die weißen Namensschilder jener Familien, die in diesem Gotteshaus einst das „Großer Gott, wir loben dich!“ aus 800 Kehlen vielstimmig gesungen hatten. Ich schaue auf die Schilder und las die Namen. Da war es mir, als riefen die Schilder ihre Namensträger herbei: Wo seid ihr? Wo sind eure Kinder und Kindeskinder? Eine Schwundstufe war erreicht.
Die Wüste ist der Ort der Anfechtungen und Versuchungen. Aber auch das Rettende ist nahe. Es führt wieder zur Mitte und ins Wesentliche. In meiner Wüste entdeckte ich die alten Lieder in neuer Weise. Die langen Predigten boten viel Zeit für die Lektüre. Und das Lesen wurde zu meinem Gebet und führte mich zu den Engeln, die ich seit je geliebt und auf dem Weg ins Leben fast verloren hatte. In den Liedern war zu allen Zeiten des Kirchenjahres die Rede von den himmlischen Chören der Engel.
„Alles, was dich preisen kann,
Cherubim und Seraphinen,
stimmen dir ein Loblied an,
alle Engel, die dir dienen,
rufen dir stets ohne Ruh:
‚Heilig, heilig, heilig!’ zu.“
Warum singen die Engel? Gewiss nicht zur Unterhaltung Gottes. Ihr Gesang ist Ausdruck eines Lebens im Wesentlichen: Sie sehen Gott von Angesicht zu Angesicht. Immer haben sie ihn vor Augen. Gott erfüllt sie. Sie können gar nicht anders. Denn Gott singt in ihnen. Diese gottseligen Geister sehen, was uns, solange wir auf Erden sind, verborgen bleibt: Gottes Gegenwart. Ihr Gesang ist die Antwort auf die große Herrlichkeit. Gott ist Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Mag die Gemeinde auf Erden verstummen oder im Eifer der Reformen das Wesentliche aus dem Blick verlieren, die Seraphim und Cherubim mit dem großen Heer der Engel werden unverdrossen den Lobpreis anstimmen.
Die eigene Stimme und den Chorgesang kann man trainieren. Lieder kann man lernen. Doch was die Seele singen macht, ist nicht von dieser Welt. Das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim und das „Ehre sei Gott in der Höhe!“ der himmlischen Heerscharen bei den Hirten zu Bethlehem ist die Antwort des Geschöpfes auf die Gotteserfahrung.
Die Kirche auf Erden stimmt ein in den Lobgesang der Kirche im Himmel. Mögen unsere Augen gehalten sein und unser Atem kurz werden, die Stimmen matt und verzagt, mag uns ein kalter Schauer ergreifen und die Angst vor einem unseligen Ende, das Gloria und Sanctus der Engel wird nicht verstummen.
Durch den Gesang hatte ich den Weg zu jenen Engeln wiedergefunden, die mich im Werden und Wachsen der Kindheit begleitet hatten: „Guten Abend, gute Nacht, von Englein bewacht“, „Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich stehn“. Als ich die Lieder an meine Kinder weitergab, wurde ich selbst für den Augenblick des Gesanges wieder Kind. Ist nicht alle wahre Frömmigkeit eine Wiederentdeckung der Kindheit?
1989 wurde ich mit der Ausbildung angehender Religionslehrer betraut. Wie in der religiösen Erziehung der eigenen Kinder stand ich vor der Aufgabe, nicht allein Wissen zu vermitteln, sondern Wege zur Begegnung mit der heimlichen Weisheit der Bibel und der Tradition zu beschreiten.
Gerhard Tersteegen hat dem gemeinsamen Lob von Engel und Mensch in einem Lied Ausdruck verliehen. Es ist wohl eine der besten Gebetsübungen.
„Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt,
wer ihn nennt,
schlagt die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder.“
(GL 387.1)
Tersteegen bildet die Mitte jener biographisch und hymnologisch ausgerichteten Engelbücher wie „Breit aus die Flügel beide“ oder „Das große Buch der Engel“, die ich Anfang der Neunziger Jahre im Herder Verlag vorlegte. Ihnen folgten Einladungen zu Einkehrtagen mit den Novizenmeistern und –meisterinnen des Benediktiner- und Zisterzienserorden über das hymnologische Vorbild der Engel für den Lobpreis der Kirche. Die gemeinsame Zeit in den Klöstern Mariastein und Engelberg schenkte mir die Möglichkeit der Teilnahme an den Stundengebeten. Während sich die Mönche hinter der Chorschranke versammelten, saß ich mit den Schwestern im Kirchenschiff. Dann begannen unter Verbeugungen die Psalmengesänge, als folgten sie den Anweisungen von Tersteegen Loblied.
„Gott ist gegenwärtig,
dem die Cherubinen
Tag und Nacht gebücket dienen.
Heilig, heilig, heilig! singen ihm zur Ehre,
aller Engel hohe Chöre.
Herr, vernimm
unsre Stimm,
da auch wir Geringen
unsre Opfer bringen.“
(GL 387.2)
Die Nonnen und Mönche, so hatte es der Heilige Benedikt gewollt, sollen ein Engelleben führen. Doch Menschen sind keine Engel. Engel singen „ohne Ruh“. Wir aber ließen eine Sitzung ausfallen und wanderten bei strahlendem Sonnenschein hinter das Kloster Engelberg, zogen unsere Schuhe aus und badeten die Füße im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches. An einem anderen Tag besuchten wir vor der Vesper die Eissporthalle und spielten Stockschießen – die Patres und Schwestern natürlich im Habit. Aber in der Anbetung traten wir wieder an die Seite des niemals unterbrochenen Lobgesanges der Cherubim und Seraphim.
Engel in Älmhult/Sverige
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Friedrich Hölderlin:
Engel des Hauses
Das erste Buch, das ich von Thomas Mann las, waren die vier Bände von „Joseph und seine Brüder“. So war es kein Zufall, dass ich die Malerin Gisela Röhn (1927-1993) kennenlernte. Sie hatte zu Motiven des Romans Aquarelle gemalt. Diese Bilder waren in einem Buch mit Berichten aus dem eigenen Leben veröffentlicht worden, sodass Jaakobs Geschichten eine autobiographische Färbung erhalten hatten. Diese Durchmischung der Sphären gefiel mir. Ein Briefwechsel begann. Ich hatte zwei Romane veröffentlicht, aber kannte bislang niemanden, mit dem ich mich über meine Suche nach Ausdruck hätte austauschen können. Gisela Röhn nahm mich an die Leine. Sie war verheiratet mit einem „Gottbegnadeten“. Erich Röhn (1910-1985) war unter Wilhelm Furtwängler Konzertmeister in Berlin und seit 1945 unter Hans Schmidt-Isserstedt beim NDR Sinfonieorchester. Ich lernte ihn in seiner Wohnung am Hamburger Mittelweg 85 kennen. Er schenkte mir die Aufnahme seines letzten Konzertes unter den Berliner Philharmonikern, Beethovens Violinkonzert op. 61 in einer Aufnahme vom 9./12. Januar 1944, zwei Wochen vor der Zerstörung der Philharmonie. Ich war sehr jung, deshalb erschien mir Erich Röhn sehr alt, dabei war er kaum über siebzig Jahre alt. Gisela Röhn war der Engel des Hauses. Sie entführte mich zu einer Ausstellung neuer Bilder in die Galerie von Felix Jud. Unter den Exponaten befand sich auch eine Strandszene am offenen Meer. Drei stehende Gestalten waren zu sehen. Die jüngste überreichte einem sitzenden Knaben ein Geschenk des Meeres. Am unteren Rand des Bildes stand eines jener mit Pinsel gemalten Zitate, mit denen Gisela Röhn einen Bezug zur Dichtung herstellte. Ich las:
„Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
Wie du anfingst, wirst du bleiben,
So viel auch wirket die Not,
Und die Zucht, das meiste nämlich
Vermag die Geburt,
Und der Lichtstrahl, der
Dem Neugeborenen begegnet.“
Das Reine ist das Heilige. Die Verse sprachen mich unmittelbar an, denn ich glaubte in ihnen eine eigene Erfahrung von Identität wiederzufinden. Sind wir nicht von Anfang an, was wir sind und sein müssen? Es war ein Zitat aus Friedrich Hölderlins (1770-1843) großem vaterländischen Gesang „Der Rhein“. Ich kaufte das Bild und brachte es nach Hause. Bevor ich heimfuhr, fragte ich noch die Malerin, warum von den vier Kindern drei Flügel trugen. „Sie werden es noch erfahren!“, sagte Gisela Röhn. Das war im Jahr 1982.
Heute sind Hölderlins Himmelsboten die Engel meines Hauses, und ich sehe im Rückblick, was ich damals wegen der Not und der Zucht nicht sah. Man hatte einen anderen Blick auf den schwäbischen Dichter, versuchte ihn aus dem Kontext der politischen Umwälzungen seiner Zeit zu verstehen oder suchte nach Gründen für sein Verstummen. War Hölderlin dem Wahnsinn verfallen? Oder täuschte er seine Geisteskrankheit nur vor, um in Ruhe gelassen zu werden? Hatte er den Schleier über dem Geheimnis zu weit geöffnet? Damals besuchte ich mit Freunden den Hölderlinturm in Tübingen. Da war an der gelb gestrichenen Mauer auf schwäbisch zu lesen: „Dr Hölderlin isch er verruckt gwä“.
Das Reinentsprungene darf nicht vollständig enthüllt werden. Der Lichtstrahl, der jedem Neugeborenen begegnet, ist sein Engel. Die Engel sind die „Himmelskräfte“, die „jedem sein Eigentum“, also seine Berufung, segnen mögen (Mein Eigentum):
„Ihr segnet gütig über den Sterblichen,
Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum,
O segnet meines auch, und dass zu
Frühe die Parze den Traum nicht ende.“
Hölderlin spricht oft von den Himmlischen. Er begegnet ihnen bei der Lektüre von Klopstocks „Messias“ und fühlt sich dann in den höchsten Chor der Engel entrückt (Die Stille):
„Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte
Mit dem Sänger Gottes, Klopstock, himmelan.“
Stille und Einsamkeit sind dem jungen Hölderlin Tore zur Ewigkeit. Als Kind spürt er „die Lüftchen des Himmels“ (Da ich ein Knabe war). Er kannte auch den Volksglauben an die Engel als himmlische Beobachter der sich lieblich entfaltenden Mädchenblüte. In einem Gedicht (Schwabens Mädgelein) für seine Schwester Rike, sie kam 1772 sechs Wochen nach dem frühen Tod des Vaters zur Welt und war nun siebzehn Jahre jung, dichtet er:
„So lieb wie Schwabens Mägdelein
Gibts keine weit und breir,
Die Engel in dem Himmel freun
Sich ihrer Herzlichkeit.“
Friedrich Hölderlin ist Hymniker. Er will die Schönheit preisen. Sie ist sein Zugang zur Welt der Engel. Seine dichterische Berufung ist die Einstimmung in den immer währenden Lobpreis. John Dryden hat ihn beschrieben, Georg Friedrich Händel ihn in seiner Ode zum Tag der Heiligen Cäcilia (HWV 76) Klang werden lassen: „From Harmony, from Heav'nly Harmony…“ Der Gesang ist Hölderlins Refugium oder Asyl in den Stürmen der Zeit. Er ist seine Gabe, sein Eigentum. Als seraphischer Geist macht Hölderlin die Erfahrung, dass sich nicht jeder Mensch auf die Höhenlage seiner Hymnen einschwingen kann oder will. Deshalb ist der Hymniker immer auch der Elegiker. Lobpreis und Klage gehören zusammen wie der beseligende Zustand der Entrückung und die Erfahrung der Nacht. Dann glaubt Hölderlin, er sei als der Einzelne und ganz Andere aus der Zeit gefallen, seine Seele sei im falschen Zeitalter inkarniert, eben zu spät gekommen. Manchmal erfährt sich Hölderlin als der letzte Sänger seiner Art, der noch einmal in Jubel ausbricht, bevor die lange Nacht kommt und das Vergessen. In der Hymne „Die Unsterblichkeit der Seele“ erklingt das Seraphische von Hölderlins Berufung. Das Wesen der Seele ist „Jubel in Ewigkeit“ und Einstimmung in den Chorgesang der Engel:
„So singt ihm nach, ihr Menschengeschlechte! nach,
Myriaden Seelen singet den Jubel nach -
Ich glaube meinem Gott, und schau in
Himmelsentzückungen meine Größe.“
Warum dichten? Warum die Existenz eines Dichters in dürftiger Zeit führen? Warum noch Hymnen anstimmen, wo doch die Nacht bereits den Horizont verfinstert? Hölderlins Dichtung hat wie das Gebet einen überweltlichen Adressaten: Er ist Gott und die Engel oder eine idealisierte Frauengestalt wie Diotima. Die große Elegie „Heimkunft“ bringt seine Poetologie auf den Punkt: „was auch Dichtende sinnen/ Oder singen, es gilt meistens den Engeln“.
Friedrich Hölderlin hat die Engel auch in der heimatlichen Landschaft wahrgenommen. Er spricht von den Engel des Vaterlandes und den Engeln des Hauses. Der Heimkehrende begrüßt die guten Geister:
„O säumt nicht,
Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! und ihr,
Engel des Hauses, kommt! in die Adern alle des Lebens,
Alle freuend zugleich, teile das Himmlische sich!
Adle! verjünge! damit nichts Menschlichgutes, damit nicht
Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch
Solche Freude, wie jetzt wenn Liebende wieder sich finden,
Wie es gehört für sie, schicklich geheiliget sei.
(…)
Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne,
Und erfreuet vielleicht Himmlische, welche sich nahn.“
Engel des Hauses: Rom und Athen kannten die Laren und Penaten. Im Judentum werden die Engel des Hauses am Sabbat mit dem Lied „Schalom alechem“ begrüßt. Carlo Levi berichtet in „Christus kam nur bis Eboli“ aus Lukanien, einer Gegend südlich Neapels:
„Julia hatte die gleiche Angewohnheit wie die anderen Bewohner des Dorfes. Sie warf den Kehricht durch die Tür auf die Straße. Alle machten das so und die Schweine sorgten dann wieder für Reinlichkeit. An diesem Abend aber sah ich, dass sie ein Häufchen aus dem Abfall machte und neben der Haustür liegen ließ. Ich fragte sie, warum sie das machte, denn es geschah sicher nicht aus hygienischen Bedenken. ‚Es ist schon Abend und der Engel könnte das übelnehmen.‘ Ich verstand nicht, und so erklärte sie mir: ‚In der Dämmerung steigen vom Himmel in jedes Haus drei Engel herab. Einer setzt sich an die Tür, der zweite an den Tisch, und einer steht am Kopfende des Bettes. Sie bewachen das Haus und beschützen es. Weder Wölfe noch wilde Wesen können hinein. Wenn ich den Kehricht durch die Tür werfe, könnte ich den Engel ins Gesicht treffen, er wäre beleidigt und käme nicht wieder. Ich erledige das morgen früh, wenn die Engel wieder fort sind.“
Hölderlins Dichtertum wurzelt in der schwäbischen Landschaft und ihren frommen Gebräuchen. Die Elegie „Stuttgart“, gewidmet Siegfried Schmid, spendet den Engeln des Vaterlandes Dank. Alles hat seine Zeit und seine Stunde. Deshalb gilt es den Augenblick festzuhalten. Dem Licht folgt das Dunkel, dem Tag die Nacht. Jetzt aber ist die Zeit des Festes. Festzeit ist für Hölderlin Herbstzeit, Zeit der geistlichen Ernte.
„Engel des Vaterlands! o ihr, vor denen das Auge,
Seis auch stark, und das Knie bricht dem einzelnen Mann,
Dass er halten sich muss an die Freund und bitten die Teuern,
dass sie tragen mit ihm all die beglückende Last,
Habt, o Gütige, Dank für den und alle die Anderen,
Die mein Leben, mein Gut unter den Sterblichen sind
Aber die Nacht kommt! laß uns eilen, zu feiern das Herbstfest
Heut noch! voll ist das Herz, aber das Leben ist kurz,
Und was der himmlische Tag zu sagen geboten,
Das zu nennen, mein Schmid! reichen wir beide nicht aus.“
Hölderlins Roman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ erzählt vom Verlust der Engel des Vaterlandes. In Griechenland hatte Hyperion einen Engel auf Erden kennengelernt. Es ist die geheimnisvolle Diotima, eine große Liebe, vielleicht eine noch größere Projektion. „Engel des Himmels! rief ich, wer kann dich fassen? wer kann sagen, er habe ganz dich begriffen?“ Für das „himmlische Mädchen“ will er alle Gelehrsamkeit aufgeben: „Was ist die Weisheit eines Buches gegen die Weisheit eines Engel?“ Engel sind unsterblich. Diotima nicht. Nach ihrem Tod kehrt Hyperion in die Heimat zurück. Kein Engel nirgends, weder in den schwäbischen Weinbergen noch in den Häusern. Auch die leuchtenden Augen von Schwabens Mägdelein sind trüb geworden. Deutschland ist zum Land ohne Engel geworden. Es ist von allen guten Geistern verlassen. Oder gilt diese Verlassenheit für den Heimkehrer? Blickt die Welt nur zurück wie sie angeschaut wurde? Sind die Deutschen „Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes“? Oder versteigt sich der verlorene Sohn in einen deutschen Selbsthass? Was gilt den Deutschen die Heimat? Was ist ihnen heilig? Deutschland ist zum Land ohne Engel geworden, glaubt Hyperion zu wissen. Das wollen und müssen wir so stehen lassen:
„Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius (Engel) verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Liebe und Brüderschaft den Städten und Häusern bringt.“
Friedrich Hölderlin wurde am 15. September 1806 in die Klinik von Johann Autenrieth (1772-1835) eingewiesen. Aus dieser Anstalt für Geisteskranke ging die Tübinger Universitätsklinik hervor. Sie lag nur 200 Schritte vom Stift entfernt, wo Hölderlin Theologie studiert hatte. Am 3. Mai 1807 wurde der Dichter als unheilbar krank entlassen. Der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer (1772-1838) nahm ihn gegen Kostgeld in Pflege. Hölderlin lebte 36 Jahre bei ihm. Zimmers Tochter Lotte (1813-1899) war neun Jahre jung, als Hölderlin einzog. Sie wird ihn an seine Schwester Rike erinnert haben. Auch sie war eines jener Mädgelein aus Schwaben, an den die Engel ihre Freude haben. „Heiligste Jungfer Lotte“ nannte sie der Dichter. Sie war es wohl: Der Engel des Hölderlinturmes in Tübingen am Neckar.
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Der Chor tritt bald auf
*
"Tanze, du Erde, vor dem Antlitz des Gottes Jakobs."
(GL 63.1)
*
"Quid beatius esse potest,
quam in terra tripudium Angelorum imitari!"
Basilius der Große an Greogor von Nazianz (I.2)
*
Motette Nr. 77 aus dem Codex Chantilly:
Angelorum psalat tripudium
"Angelorum psalat tripudium
musicorum pandens armoniam
orpheycam plectens sinphoniam
procul pellens Vanum fastidium
qui operum fuit inicium
delictorum frangens constanciam
duplicatum ostendens animum
pomum prebens Cunctis letiferum
Ista gerit vices luciferi
que principi suppremo voluit
coequa(r)li set tandem corruit
In profundum abissi Inferi(ri)
Pestifera in qua superbia
Ingrata es Deo et homini
in retro mordens ut fera Pessima
ante blandis ut faus Innocui"
*
tripudium ist ein Tanzschritt
*
"Fröhlich soll mein Herze springen (=tanzen)
dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen.
Hört, hört wie mit vollen Chören
alle Luft laute ruft:
Christus ist geboren!"
Paul Gerhardt
*
"Die himmlische Liturgie ragt direkt in die irdische hinein.
Das Göttliche wird in den Kreis der versammelten Gemeinde herabgezogen,
Christus ist in einer Epiphanie zugegen,
die der Fromme 'sieht' und 'hört'."
Reinhold Hammerstein. Die Musik der Engel.
Francke Verlag. Bern und München 1962. S. 30
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Collage Adobe Stock. Tagespost von 15. Juli 2021
Der Artikel erschien zuerst in der Tagespost:
https://www.die-tagespost.de/autoren/uwe-wolff/
*
"Zugleich wird ein heiliger Papst auftreten,
nicht von Kardinälen gewählt,
sondern von Gott gesandt..."
Friedrich Baethgen. Der Engelpapst. Max Niemeyer. Halle 1933. S. 90
Früher sah die Gemeinde im Priester den engelgleichen Mann. Heute wissen wir, dass Idealisierungen den Blick trüben können. Priester sind keine Engel. Sie haben nicht nur kleine menschliche Schwächen, sondern können abgrundtief fallen. Wie übrigens auch die „Gottessöhne“ (Gen 6.1-2), die sich an den „Menschentöchtern“ vergingen, oder jene Männer von Sodom, die den Engeln nachstellten (Gen 19.5). Die Bibel verschweigt das Abgründige nicht . Es markiert den Abstand vom Ideal, widerlegt jedoch nicht seine Gültigkeit. Benedikt von Nursia hatte vom engelgleichen Leben in dienender Liebe gesprochen.
Die Rede vom Engelpapst oder Pastor bonus nimmt dieses Ideal auf und beschreibt mit ihm eine ökumenische Hoffnung auf Heil und Heilung der zerspaltenen Christenheit, ihre Versöhnung mit den Geschwisterreligionen und darüber hinaus mit allen Menschen, die bisher Gott nicht kannten oder in ihrem Leben nicht vermissten. Die träumerische Sehnsucht vom Kommen des Pastor angelicus „gehört zu dem Heimlichsten und Zartesten katholischer Frömmigkeit, und so gut wie niemand redet von ihr; denn nur wenige katholische Fromme schauen das Papsttum in seinem erschreckenden Abstand von Jesu Ideal und bleiben ihm gleichwohl in Treue und Liebe ergeben.“
So schreibt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967) in seinem Werk „Der Katholizismus“ (1923) und entwirft ein Traumbild von dem engelgleichen Papst der Zukunft. Dieser Papa angelico werde ein Sohn des heiligen Franz sein, werde nicht im apostolischen Palast wohnen, die Huldigungen der Kardinäle und Prälaten verschmähen, werde Buße tun für die unzähligen Sünden seiner Vorgänger und vom Primat der dienenden Liebe in Demut sprechen. Den getrennten Brüdern der lutherischen und reformierten Kirchen, den Schwesterkirchen im Osten wird er die Hand zur Rückkehr reichen. Im Zeichen der Liebe sollen die verlorenen Söhne und Töchter wieder in den Schoß der una sancta ecclesia heimkehren. Dieser Engelpapst wird versöhnen statt spalten, er wird nicht ausgrenzen, sondern integrieren: Die unter dem Primat Roms stehende versöhnte Christenheit muss ihre eigenen Traditionen, ihre Überlieferungen und Sitten in dieser Einheit in der Vielfalt der Stimmen nicht preisgeben.
Wie aber werden sich die alten und neuen Ketzer und Kirchenkritiker verhalten? Friedrich Heiler engagierte sich in der Una-Sancta-Bewegung und war optimistisch, dass alle synodalen Wege letztlich wieder nach Rom führen werden. Er glaubte an eine Allversöhnung. Gerade die hartnäckigsten Kritiker werden die Knie beugen. Nicht vor der Macht, nicht vor der Gewalt, nicht aus Furcht und Zittern, sondern vor der Evidenz der Erscheinung des Engelpapstes. So ist Heiler zuversichtlich:
„Gerade jene, welche seit Jahrhunderten die Papstkirche leidenschaftlich befehdet hatten, werden nun ihre eifrigsten und treuesten Glieder. Die alten ‚Häresien‘ und ‚Schismen‘ verschwinden; Orientalen und Anglikaner, Lutheraner und Calvinisten, Sektierer und Spiritualisten - alle beugen sich diesem neuen Papst, der zu ihnen kommt, nicht um über sie zu herrschen, sondern um ihnen zu dienen. Sie bleiben, was sie sind; sie behalten ihre Kultformen und Einrichtungen und hüten das besondere Charisma, das ihnen zuteil geworden ist. Aber sie stehen fortan nicht mehr getrennt von der ecclesia universalis, sondern sind vereint mit ihr und schöpfen aus ihrem Lebensreichtum und ihrer Gnadenfülle. Eine una sancta ersteht, wie sie die Welt nicht mehr gesehen seit den Anfängen der Christenheit, ja, noch größer und reicher und wunderbarer als die una sancta der ersten christlichen Jahrzehnte.“
Der Papa angelico besiegelt die Liebeseinheit der Kirche. Er dient in den Kathedralen des Abendlandes, feiert die Eucharistie in den Ostkirchen, „er bricht das eucharistische Brot an den schmucklosen Tischen evangelischer Puritaner und reicht den eucharistischen Kelch an den Altären der evangelischen Hochkirchen.“
Visionen fallen nicht nur vom Himmel. Sie erzählen von den Sehnsüchten frommer Seelen in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Wenn das Amt versagt, ist die Stunde der Seher und Reformer gekommen. In der langen Sedisvakanz nach dem Tod Clemens IV. (1200-1268) zirkulierte unter den Kardinälen im Konklave die Weissagung: der neue Papst werde der Welt Frieden schenken, Jerusalem erobern und das Heilige Grab von den Ungläubigen befreien. Er werde die Kranken heilen und die Verlorenen suchen. Der Sittenverderbnis unter den Klerikern werde er ein Ende bereiten und die gespaltene Kirche wieder zur Einheit führen.
In der Zeit der Kreuzzüge entstand der Traum von einer weltweitenden Ökumene. Er übernahm Erzählmuster der Kaisersage von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa und steigerte sie zu einer ökologischen Utopie. Unter dem Engelpapst werde der Mensch wieder achtsam mit der Natur umgehen, dem Wolf die Hand zur Versöhnung reichen, den Vögeln predigen und mit den Muslimen einen interreligiösen Dialog führen. Roger Bacon (1220-1292), als Franziskaner und „Doctor mirabilis“ hoch verehrt, verschwieg aber nicht die Grenzen der Integration:
„Und um der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Papstes willen wird es geschehen, dass die Griechen zum Gehorsam der römischen Kirche zurückkehren, die Tataren in ihrer Mehrzahl zum Glauben bekehrt und die Sarazenen vernichtet werden. Und es wird sein ein Hirt und eine Herde.“
Vier Jahre dauerte es, bis ein neuer Papst gewählt werden konnte. Er kam von weit her, war nicht einmal Priester und herrschte als Gregor X. (1210-1276) unter einem großen Namen. Aber er war nicht der Engelpapst. Der lebte von der Spiritualität der Franziskaner genährt weiter im Verborgenen eines kommenden dritten Reiches.
Als der Historiker Friedrich Baethgen (1890-1972) auf Einladung der Königsberger gelehrten Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag über die Utopie des Engelpapstes hielt, hatte das Geschichtsbild des Joachim von Fiore eine unheilvolle Aktualität bekommen. Der Königsberger Ordinarius glaubte nicht wie Lessing in „Erziehung des Menschengeschlechtes“ an ein kommendes drittes Zeitalter. Im Gegensatz zu Friedrich Heiler vertraute er auch nicht auf die Allmacht der Liebe.
„Der Gedanke, ein Papsttum ausschließlich auf die moralischen Fundamente reiner und geläuterter Menschlichkeit zu gründen, stand nicht nur in unversöhnbarem Gegensatz zu den Grundtendenzen der Entwicklung, die diese Institution in einer jahrhundertelangen Geschichte durchlaufen hatte, sondern widersprach auch den allgemeinen Bedingungen und Notwendigkeiten, von denen keine religiöse Organisation sich auf die Länge zu emanzipieren vermag.“
Zum Marburger Kreis um Friedrich Heiler gehörte auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003). Sie teilte mit ihm das Ideal einer „Evangelischen Katholizität“ und den ökumenischen Blick einer Liebesmystik, der weit über die Grenzen des Christentums hinausführte. Der Katholik Heiler hatte unter Nathan Söderblom am lutherischen Abendmahl teilgenommen und später die Bischofsweihe in der gallikanischen Sukzession empfangen, weshalb er mit Griechen und Russen in Marburg die orthodoxe Osternacht feiern konnte. Jeden Sonntag zelebrierte er in seiner Hauskapelle die Evangelische Messe, über deren Atmosphäre Annemarie Schimmel in ihrer Autobiographie berichtet:
„Treue Freunde nahmen daran teil, und später saß auch das Hündchen Mitra und dessen Nachfolger, der schwarze Laqit, ‚Findelkind‘, still in der Kapelle. Ich stenographierte oft die Predigten mit und wußte, wenn der Satz ‚Gott ist Liebe‘ kam war die Predigt bald zu Ende. Es waren schöne Stunden, in denen die für Heiler typische Verbindung von Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit deutlich wurde.“
Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit hat religiöse Seelen zu jeder Zeit tief bewegt. Er wühlte auch Søren Kierkegaard auf und trieb ihn zu seinen scharfen Angriffen gegen die dänische Volkskirche. Dänemark kennt ebenfalls die Gestalt des verborgenen Retters. Der keltische König Artus ruht im Feenreich von Avalon, bis seine Zeit gekommen ist. Holger Danske schläft sitzend und mit dem Schwert in der Hand in den Kasematten von Hamlets Schloss Kronborg. Niemand kennt den Tag seines Erwachens. Aber die Sage weiß, dass es eine Stunde höchster Not und Bedrohung des dänischen Volkes sein wird. Dann wird sich Holger Danske erheben. Solche nationalen Träume kann sich Deutschland nicht mehr leisten, wohl aber die russische orthodoxe Kirche. Sie versteht sich als drittes Rom. Doch in den Augen ihrer Kritiker ist sie nicht das „heilige Russland“ und „heilige russische Imperium“ („Svjatoruskaja zemlja“), das Philotheos von Pskov schaute. Die russisch orthodoxe Kirche war seit Peter I. bis zur Revolution eine Staatskirche. Heute ist sie es wohl wieder, wenngleich es keinen Zaren mehr gibt. Doch ist die Figur eines endzeitlichen „weißen Zaren“ nie aus dem Bewusstsein der Frommen verschwunden.
Im Westen erwacht der Traum vom Engelpapst mit der ökumenischen Bewegung und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie Friedrich Heiler wollten viele Menschen in Johannes XXIII. den Engelpapst sehen. Heute wissen wir, er war es nicht. Die Idee des Engelpapstes integriert auch Motive des Messianismus’. Die Ankunft des Messias wird wie die Parusie Christi nicht durch Konzilsbeschlüsse eingeläutet. Sie kommt wie der Dieb in der Nacht.
Ob Papst Franziskus mit seiner Namenswahl und seiner Schwerpunktsetzung von der Idee eines Engelpapstes inspiriert worden ist, werden künftige Historiker herausfinden. Unsere Zeit fühlt sich von Endzeitängsten in apokalyptischer Dimension bedroht. Aber sie reagiert nicht mehr wie die franziskanische Bewegung mit Buße und Umkehr zu Gott. Ihre Utopien reichen nicht über den Horizont der Wirklichkeit hinaus. Deshalb kann sie nicht mehr vergeben und duldet in anderen die Schwäche nicht, die sie insgeheim in sich selbstverabscheut. Daher die Angst und die Gier. Von Mystik keine Spur und auch keine Erwartung kommenden Heils. Der Engelpapst bleibt im Verborgenen. Hier aber ist er vielleicht gegenwärtiger als in der sichtbaren Welt. Einen Engel erkennt man erst, wenn er vorübergegangen ist. So wird es auch mit dem Erscheinen des Engelpapstes sein.
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"Ja, husk kun på mig I danske folk!
behold mig i tanke! jeg kommer i nødens time!“
Holger Danske
Et eventyr af Hans Christian Andersen
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Gesehen im Ikea-Museum Älmhult (2017)
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