"Die Sophia aber umfasst alle Völker,

und sie ist unter allen Völkern,

sie ist keine nationale-lokale,

sondern die universale Kirche,

die alle Völker unter ihre Kuppel zusammenruft."

 

Sergij Bulgakov. In der Hagia Sophia (1923)

 

 

 

 

 

 
Die Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau hat aus russischer orthodoxer Sicht eine dem Petersdom vergleichbare Bedeutung. Als Stalin im Dezember 1931 das Gotteshaus im „Dritten Rom“ sprengen ließ, war dies der vorläufige Höhepunkt einer beispiellosen Christenverfolgung. Sie begann unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 mit der Enteignung des kirchlichen Landbesitzes, der Übereignung aller Schulen, Lehranstalten, Akademien und Bibliotheken, des Verbotes des Religionsunterricht an den Schulen und der Einführung der standesamtlichen Eheschließung. Priester und Mönche wurden verfolgt und ermordet, Klöster zu Gefängnissen und Erschießungsorten. Am Platz der gesprengten Moskauer Kathedrale sollte das höchste Gebäude der Welt, der 400 Meter hohe Palast der Sowjets errichtet werden als gigantischer Sockel für eine Leninstatue. Es kam anders. Wo einst die Christus-Erlöser-Kathedrale statt, wurde ein Schwimmbad errichtet. Erst zwischen 1995 und 2000 konnte die ausschließlich von Spendengeldern finanzierte Kathedrale neu errichtet werden. Sie wurde zum Symbol für die Wiedergeburt der Kirche, weshalb der blasphemische Aufritt von „Pussy Riot“ an diesem Ort eine Ungeheuerlichkeit darstellte.

 

Das Ziel der Revolution unter Lenin und Stalin war die Auslöschung der Kirche und allen religiösen Lebens. In Leben und Werk des Ökonomen und späteren Priesters und Theologen Sergij Bulgakov (1871-1944) spiegeln sich diese Jahrzehnte. Bulgakov stammte aus einem alten Priestergeschlecht. Sein Vater war ein armer Geistlicher ohne eigene Pfarrei. Die Familie sah sich zahlreichen gesundheitlichen Belastungen und Grenzerfahrungen ausgesetzt. Auch das geistliche Leben in Bulgakovs Heimatgemeinde, der Kirche des heiligen Sergij, war kein Idyll: der Geistliche alt und schwach, Küster, Diakon und der Bass im Kirchenchor dem Alkohol verfallen. Doch gerade hier, inmitten unwürdiger Diener, erlebte der Knabe eine Initiation durch den Gesang und das Mysterium der Eucharistie. „In ihr wurde die Seele von Schönheit beseelt. Sie war ganz und gar himmelblau, sophianisch.“ Bulgakov spricht von Erfahrungen der Entrückung, von himmlischen Sphärenklängen und Engelsgesängen, von der Herrlichkeit Gottes. „Ja, hier empfing ich in meinem Herzen die Offenbarung der Sophia, hier wurde in meine Seele die Perle gelegt.“ Der göttlichen Weisheit oder Sophia sind in Russland viele Kirchen geweiht. Die auf Christus bezogene Tradition der „Hagia Sophia“ verwandelte sich in Russland in die Weisheit, die in der Gottesmutter Maria sichtbar wird.

 

Weisheit und Wissen bilden im Leben Bulgakovs eine Einheit. In seiner erfahrungsbezogenen Gotteslehre ist die Sophia ein unergründliches Symbol für eine paradoxe Erfahrung der Herrlichkeit gerade in der Dunkelheit des Schmerzes. Den Tod des dreijährigen Sohnes erlebt Bulgakov als „Donnerschlag vom Himmel“ und zugleich als religiöse Offenbarung, die zu einer Lebenswende führt. Nachdem er sich zwischen dem 14. und 30. Lebensjahr von der Kirche abgewandt und seine Hoffnung auf Glauben entfremdet hatte, reift nun in ihm der Wille zum Priestertum. Die göttliche Weisheit führt bei ihm zu einer ganzheitlichen Lebensdeutung, in der gerade die Umwege und Irrwege wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn zur Mitte führen. „Letztlich ist die Tragödie - natürlich mitsamt ihrer Überwindung - der einzig würdige ‚Heilsweg‘. Auf den Lebenswegen der Menschen muss es auch ‚Häresien‘ geben, damit die Bewährtesten in ihrer Bewährung offenbar werden.“

 

Auf einem der sogenannten Philosophenschiffe, mit der ein Teil von Russlands geistiger Elite des Landes verwiesen wird, geht dieser Weise 1923 ins Exil. Über Konstantinopel (Istanbul), Prag, Dresden kommt er nach Paris und wird hier Mitgründer und später Dekan des Instituts St. Serge für Orthodoxe Theologie. Der Aufenthalt in Istanbul fällt auf seinen 25. Hochzeitstag. Bulgakov ist ergriffen von großer Dankbarkeit. „Ehen werden wahrhaft im Himmel geschlossen“, notiert er in sein Tagebuch und nach dem Besuch der Hagia Sophia: „Ich empfand eine überirdische Seligkeit, und darin versanken all meine derzeitigen Kümmernisse und Schwierigkeiten - zumindest für einen Augenblick - als unbedeutend.“

 

Bulgakov erlebt die Kirche der Heiligen Sophia als Moschee. „Das Heiligtum ist Christus genommen und einem falschen Propheten übergeben worden.“ Dennoch sieht er eine echte Ergriffenheit. „Wie schön, wie würdevoll, wie geordnet war dieses Gebet auf seine Weise!“ Auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft wird Bulgakov von einer Vision der ökumenischen Einheit unter dem Kreuz ergriffen. Die Zukunft der geteilten Christenheit liegt für ihn im Advent Christi, der zugleich Advent der Sophia ist: „Die Sophia aber umfasst alle Völker, und sie ist über allen Völkern, sie ist keine national-lokale, sondern die universale Kirche, die alle Völker unter ihre Kuppel zusammenruft.“

 

Aus den Reihen seiner eigenen Kirche hat man Sergej Bulgakov katholisierende Tendenzen und dogmatische Häresien vorgeworfen. Mit der Sophiologie lehre er eine vierte Person neben der Trinität. Ein Vorwurf, den Protestanten nach der Verkündigung des Dogmas von der leibhaftigen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950) ebenfalls erhoben. Bulgakov ging es nicht um gnostische Spekulationen, sondern um die gute Schöpfung, die als Sophia-Kirche durch alle Katastrophen hindurch dem kommenden Licht der Herrlichkeit Gottes entgegen schreitet.

 

 

 

 

Sergej Bulgakov war ein Universalgelehrter: Ökonom, Philosoph, Theologe. Seine zahlreichen Bücher bezeugen einen spirituellen Autor von Rang, der die Herrlichkeit und Weisheit Gottes nicht nur denkt, sondern auch inmitten der Geschichte und der Natur erfährt. Auf einer Seefahrt nach Amerika schaut er „eine Offenbarung der Sophia im Ozean“, jene Schönheit des Anfangs, als der Geist Gottes noch vor dem ersten Schöpfungstag über den Wassern schwebte. „Und antwortend gab ich mich hin, ging auf dieser Sophia der Wasser, indem ich sie mit der weiblichen Seite meiner Seele in mich aufnahm.“ Sophiologie ist die ursprünglichste und reinste Form aller frauengerechten Theologie.

 

Barbara Hallensleben, Beraterin im Vatikan und polyglotte Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene in Fribourg, widmet sich seit Jahrzehnten in Theologie und Zusammenarbeit der russischen orthodoxen Kirche. Ihr hohes persönliches Engagement gilt dem studentischen Austausch ebenso wie Kontakten zu höchsten kirchlichen Vertretern. So wurde Metropolit Hilarion, Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, in Fribourg habilitiert. Zu den vielfältigen Früchten von Barbara Hallenslebens ökumenischem Wirken gehört eine auf 20 Bände projektierte deutschsprachige Ausgabe der Werke Sergij Bulgakovs im renommierten Münsteraner Aschendorff Verlag. Der Band „Aus meinem Leben“ führt mit autobiographischen Zeugnissen in die Mitte einer unbekannten Welt, die doch wichtiger Teil der Ökumene ist. Ein großer russischer Weiser und Wissenschaftler ist zu entdecken!

 

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"Ja, hier empfing ich in meinem Herzen die Offenbarung der Sophia,

hier wurde in meine Seele die Perle gelegt (...).

Wenn wir am Weihnachtsfest oder am Tag der Taufe

nachts um zwei Uhr mit dem Schlitten fuhren,

dann glänzte das Himmelsgewölbe in seiner Herrlichkeit.

Die Sterne leuchteten und ergriffen unsere Seelen mit ihren Engelsklängen -

inmitten der Winterkälte, wie auch der Herr in kalter Winternacht

in einer Höhle geboren wurde.

Und alles, eines um das andere, zeugte von der Herrlichkeit Gottes.

Meine Seele hat vieles aufgenommen und wenig bewahrt,

doch das hat sie bewahrt, denn nur das ist der Schatz der Seele,

ihre Perle, alles andere ist äußere Schale oder Hülle."

 

Meine Heimat (1939)

 

 

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"Alle menschlichen Sünden sind nur Tropfen vor dem Ozean der Barmherzigkeit Gottes -

so hörte ich von dem Starez.

Ich verließ ihn losgesprochen und versöhnt,

erschüttert und in Tränen aufgelöst,

und ich fühlte mich wie auf Flügeln in das Innere der bergenden Kirche getragen."

 

Rufe und Begegnungen (1917)

 

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"Ich habe den Ozean in seiner Begegnung mit der Sonne gesehen ...

den Abgrund, der das Licht des Logos empfing

und ihm im heiligen Geist antwortete,

gekleidet in Schönheit ...

Der Ozean ist vor allem eine Offenbarung des Himmels, des Himmelsgewölbes.

Ich glaube nirgends - auch nicht auf den höchsten Bergen -

gibt es eine solche Offenbarung des Himmelsgewölbes wie über dem Ozean.

(...)

Es ist der Heilige Geist, der über dem Wasser schwebte -

und schwebt -

und es in Schönheit erstrahlen lässt.

Und schon ist es nicht mehr das formlose und böse Naturelement,

sondern die gestaltete, begrenzte Unendlichkeit der Kraft des Seins,

ist es die Kraft Gottes und die Weisheit,

eine Offenbarung der Sophia im Ozean ...

Und antwortend gab ich mich hin,

ging auf in dieser Sophia der Wasser,

indem ich sie mit der weiblichen Seite meiner Seele in mich aufnahm

(denn alles ist auch im Menschen, sowohl dieser Ozean

als auch dieser unendliche Abgrund,

dieses uranfängliche Alles -

all das ist im Menschen)."

 

Reise nach Amerika (1934)

 

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"Welche Gnade war in meinem ganzen Leben

wirksamer und offenkundiger als der Schutzengel,

den Gott mir zugeführt und geschenkt hat,

meine Lebensgefährtin,

der ich niemals würdig war

und die für mich immer ein sicherer Halt gewesen ist.

Ehen werden wahrhaftig im Himmel geschlossen."

 

Tagebuch vom 14. (27.) Januar 1923

 

 

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Alle Zitate aus:

Sergej Bulgakov. Aus meinem Leben. Autobiographische Zeugnisse. Hrsg. von Barbara Hallenslebens und Regula M. Zwahlen. Aschendorff Verlag. Münster 2020. (= Werke Band 2).