"Immer schmal am Abgrund blühen die kostbaren Edelweiß."
(Hans Urs von Balthasar, Rigi, 13. August 1984, an Maria Eschbach)
*
"Sie ist ohne Zweifel eine der größten Seherinnen aller Zeiten."
(Patrick Catry über Adrienne von Speyr)
Hier ein Vortrag über Adrienne von Speyr (Dezember 2022):
https://rcm.radiomaria.at/!/mp3/view?id=30567
Mit der Konversion an Allerheiligen 1940 erreichte die Basler Ärztin Adrienne von Speyr (1902-1967) ihre himmlische Bestimmung. So sah es Hans Urs von Balthasar (1905-1988) und stellte sich in den Dienst einer doppelten Sendung. In über sechzig Büchern kommentierte die Mystikerin die Bibel und die Gebetshaltungen der Heiligen. Sie hatte Visionen von Himmel, Fegefeuer und Hölle. Ihr Leben war voller Wunder: Stigmata, Levitationen, Bilokationen, Zungenreden, Heilungen, Exorzismen und sogar eine Totenauferweckung sollten den geöffneten Himmel bezeugen. Die Identifikation der Büßerin mit dem Gekreuzigten ging so weit, dass sie die Angst von Gethsemane, den Schrei der Gottesverlassenheit am Kreuz und die Höllenfahrt immer wieder nacherlebte. Ihr freiwilliges Leiden deutete sie als Sühnopfer. Hans Urs von Balthasar protokollierte die Gesichte, redigierte den Text und edierte ihn in verschiedenen Themenkomplexen zu einer Karsamstagstheologie.
Wie Clemens von Brentano am Krankenbett der Anna-Katharina Emmerick, so wusste sich auch Balthasar berufen zum Zeugen einer gewaltigen Schau. Die Privatoffenbarungen der Adrienne von Speyr haben einen Umfang von über 60000 Seiten. Sie sind unüberschaubar wie das Delta des Nils oder die mäandernden sibirischen Flüsse. Ein Mozart, dessen Werk Hans Urs von Balthasar zu großen Teilen auswendig spielen konnte, hätte aus dieser Polyphonie der Offenbarungen vielleicht eine neue „Zauberflöte“ komponiert, ein Oliver Sacks den Roman einer spirituellen Grenzgängerin zwischen Genie und Wahnsinn, ein Paul Claudel das Drama der Hölle des 20. Jahrhunderts, das Edith Stein erleben musste. Die Karmeliterin gehörte zu den Freundinnen des Wiener Psychiaters Rudolf Allers. Beide waren jüdische Konvertiten. Edith Stein wohnte später in jenem Gästezimmer des Spezialisten für „Abnorme Welten“, in dem der junge Student Balthasar eine prägende Zeit erlebt hatte. „Meinem geliebten Freude Rudolf Allers“ widmete er seine germanistische Dissertation.
Der Jesuit und Studentenseelsorger Balthasar sprach von einer Doppelsendung wie sie in Geschichte der Kirche gelegentlich vorkommt: Johannes von Kreuz und Teresa von Avila oder Franz von Sales und Jeannes de Chantal. Urbild dieser Doppelsendungen waren für ihn Maria und der Lieblingsjünger Johannes, nach dem er den Johannesverlag und das Säkularinstitut der Johannesgemeinschaft benannte. Mit diesen Gründungen glaubte er auf die Krise der Kirche reagieren zu können. Inspiriert von Søren Kierkegaard setzte er auf den Einzelnen. Als ihm sein Orden die Anerkennung der Privatoffenbarungen verweigerte, verließ der theologische Schriftsteller die Gründung des Heiligen Ignatius. Der „Sanctus Pater Noster" (SPN), wie er in den Visionen genannt wird, habe ihn zu einer Ordensreform berufen, einer Art verborgenes Kloster in der Welt für die spirituelle Elite.
Adrienne von Speyr stammte aus einer Arztfamilie. Ihr Onkel leitete die psychiatrische Klinik Waldau in Bern. Hier verbrachte sie unter den Kranken die Ferien mit Schrecken und Faszination. Sie war ein sehr spezielles Kind. Von ihrer Mutter fühlte sie sich abgelehnt. „Bub-Mädchen“ oder „verfehlter Bub“ wurde sie genannt, und immer wieder musste sie aus ihrem Mund hören: „Du bist wirklich unerträglich.“ In der Schule gilt sie als „schwatzhaft“. Balthasar hat diese Kindheit durch Rückversetzungen mit Hilfe der Hypnose in schonungsloser Offenheit rekonstruiert. Auch in der Dokumentation der letzten Lebensjahre, der zum Pflegefall gewordenen Visionärin, wird er kein medizinisches Detail der Leidensgeschichte übergehen.
Die junge Studentin der Medizin kommt in engen Kontakt zur Basler Prominenz, dem „Teig“ wie es rund um den Münsterplatz heisst. Bei einem gemeinsamen Wanderurlaub in den Bergen wird sie mit dem Witwer Emil Dürr verkuppelt. Die Trauung findet auf dem Gelände der Waldau statt. Zu den geladenen Gästen gehören auch die Patienten der Klinik. Tanzend folgen sie dem Brautpaar. Der Berner Organist Ernst Graf begleitet die evangelische Trauung an der Orgel der Anstalt. Jahre später wird er sich an seiner Orgel erhängen. Als Emil Dürr bei einem Trambahn-Unfall ums Leben kommt, heiratet Adrienne seinen Nachfolger auf dem Basler Lehrstuhl, den Historiker Werner Kaegi. Ein Mitglied des George-Kreise führt schließlich den Studentenseelsorger und die Ärztin zusammen. Nach seiner Trennung vom Jesuitenorden bezieht Balthasar ein Zimmer im Hause Kaegi. Diese räumliche Nähe erleichtert das Anfertigen der Protokolle und später die Pflege der schwer erkrankten Seherin.
Balthasar gilt vielen als der bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts. Kardinal Ratzinger nannte ihn den „vielleicht gebildetsten Menschen unserer Zeit“. 1984 wurde sein Werk mit dem Paul VI. Preis geehrt. Auf Wunsch von Johannes Paul II. fand 1985 in Rom ein Symposion über das geniale Paar statt. Drei Jahre später würdigte der Heilige Vater das Werk des Universalgelehrten durch seine Erhebung in den Kreis der Kardinäle. Diese konnte nicht mehr vollzogen werden, weil der Geehrte unmittelbar vor seiner Romreise starb.
Seitdem ist es still um den großen Mann geworden. Die Lektüre seines wissenschaftlichen Werkes setzt beim Leser eine gründliche Vertrautheit mit den Kirchenvätern und der abendländischen Geistesgeschichte voraus. Der Traditionsbruch aber hat sich inzwischen zu einem Traditionsloch erweitert. Balthasar setzte auf die Bildung einer kommenden katholischen Elite. „Der Haufen entscheidet nie“, wusste er und „von der Masse erwarte ich gar nichts“. Sein Credo ist zur Zeit nicht mehr zeitgemäss: „Ich glaube, dass Einzelne das Geschick der Welt entscheiden.“ Seine Karsamstagstheologie mit ihrer radikalen Nachfolge Jesu und seine Leidensmystik antworten auf die Kreuzeserfahrungen in den Höllen des 20. Jahrhunderts. Aber Schuld, Sünde, Buße, Sühne und Vergebung werden nicht mehr im Kontext der christlichen Mitte erfahren. Die Gegenwart hat keinen Zugang zu der visionären Welt der Adrienne von Speyr. Auch die Kirche hält es mit einem berühmten Wort von Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.“
Hans Urs von Balthasar ging es um letzte Haltungen. Der Ungeduldige war bei aller gelegentlichen Rücksichtslosigkeit im Menschlichen und verlegerischen Geschäftigkeit um die langfristige Wirkung seiner Bücher recht unbekümmert. Der junge Studentenseelsorger hatte noch den Eifer des Konvertitenmachers. In einer Art doppelter Strategie versuchen Adrienne und er den reformierten Startheologen Karl Barth für die katholische Kirche zu gewinnen. Sie durch nächtliche Bussübungen auf dem nackten Boden, er durch den wissenschaftlichen Austausch und eine Monographie. Barth lebte mit Frau, Kindern und der Geliebten in einem Haus. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Schließlich, so Adrienne von Speyr, soll der Heilige Ignatius mit einer direkten Anweisung vom Himmel das Unternehmen gestoppt haben: „Ignatius gibt Anweisungen, wie Karl Barth zu behandeln sei. Man sollte nicht mehr auf seine Konversion warten, er habe so viel Gnade gehabt und habe sie immer wieder verscherzt.“
In Adriennes Welt geht es manchmal allzu vertraulich zu, besonders wenn Engel und die Muttergottes auftreten. Doch verbietet sich ein vorschnelles Urteil über Ereignisse zwischen Himmel und Erde, die weit jenseits alltäglicher Erfahrungen liegen. Vieles erscheint auf den ersten Blick absurd, und der Leser meint das Berichtete mit einem spöttischen Lächeln abwehren zu können. Doch selbst die in der Geschichte der Wunder beispiellose Erfahrung einer „Involution des ganzen Ehelebens Adriennes. Ihre Jungfräulichkeit soll wiederhergestellt werden“ führt tief in Probleme der Seelsorge. Ob diese Beichtgeheimnisse in die Öffentlichkeit gehören, ist eine der vielen Fragen an die Doppelsendung.
*
"Es ging ihm um die Heilung der Augen des Herzens, um das Sehendwerden für das Eigentliche:
für Grund und Ziel der Welt und unseres Lebens, für den lebendigen Gott."
(Joseph Kardinal Ratzinger in seiner Abdankungsrede
"Ein Mann der Kirche in der Welt"
auf Hans Urs von Balthasar
beim Requiem in der Hofkirche von Luzern.)
*
"Sehen Sie, Sie geben meinem Erleben immer einen so schönen Sinn;
Sie erfassen es so unendlich viel besser als ich,
und es ist mir so, dass Ihre Führung das Erlebte für mich sinn- und gnadenvoll gestaltet."
(3. April 1941, Nachlass VIII. 34)
*
"Die grenzenlose Liebe, die ich in diesen Jahren zu Ignatius bekommen habe.
Für ihn gehe ich ins Feuer, für ihn trete ich gern aus seinem Orden aus,
wenn es ihm Spaß macht, d.h. wenn es in seinen Plänen zur größeren Ehre Gottes liegt."
(Sommer 1946, Nachlass IX. 197f.)
*
"Das Ganze ist so peinlich."
(Nachlass IX. 252)
*
"Die Absolutsetzung 'Inspiration' gegen äußeren Gehorsam ist unkirchlich."
(1. Juli 1948, Nachlass IX.465)
*
"Das letzte Geheimnis der Sünde bleibt in Gott verborgen:
er hat die Welt geschaffen, in der es die Versuchung gibt."
(Unser Auftrag 165)
*
"A. antwortet auf eine Frage:
Nein, die Therese Neumann habe ich nie angetroffen."
(1963, Nachlass III. 403)
*
"Katharina Emmerich hat angeblich das Leben des Herrn in Visionen erlebt.
(...) Selbst wenn diese Visionen echt sind, sind sie großenteils steril.
Das meiste von dem, was gezeigt wird, ist ziemlich gleichgültig.
(...) So besteht der Verdacht, dass sie sich selbst in das Bild hineinprojeziert.
In der wahren Vison verliert man den Kontakt mit dem Alltag,
man wird in eine andere Wahrheit, die der Vision hinein, fortgerissen."
(Nachlass IV. 382)
*
Ein Gespräch mit Hans Urs von Balthasar: